DEUTSCHE HEIMAT : Phantomschmerzen
Heimat ist eine Grunderfahrung. Es ist ein vages Wort, das doch jeder versteht, weil jeder irgendwoher kommt. Es ist ein einfaches Wort, aber nur auf den ersten Blick. Das Vertrackte an der Heimat ist, dass es ein Bewusstsein davon nur in der Fremde gibt. Wenn einer bleibt, wo er geboren wurde, weiß er nicht, was Heimat bedeutet. Ein Walser-Bauer im 17. Jahrhundert, der sein ganzes Leben in einem Alpental verbracht hat, mag uns als Inbegriff von Heimatverbundenheit erscheinen. Er selbst aber hatte davon wohl keinen Begriff.
Wir Thirtysomethings und Fourtysomethings, die von zu Hause weggegangen und in der Welt herumgekommen sind, könnten etwas mehr Heimat oder, sagen wir, Heimatbewusstsein brauchen. Aber es gibt sie für uns nicht.
Konkret existiert Heimat natürlich so wie für jeden. Aber es gibt sie nicht als kollektiven, verallgemeinerbaren Begriff. Für uns, Angehörige der dritten Generation nach den Nazis, ist die „deutsche Heimat“ kontaminiert. Noch immer, trotz der Historisierung der Nazizeit. Wenn man ihn benutzt, sagt man etwas Falsches. Irgendwo klingt darin noch immer Goebbels mit, der in seiner Sportpalast-Rede ein Dutzend Mal die deutsche Heimat beschwor.
Manche Wörter werden die Nazivergiftung nicht los. Volk zum Beispiel oder eben Heimat.
Man kann das albern finden. Wir waren im Sportpalast ja nicht dabei. Es ist ein Phantomschmerz. Wer Phantomschmerzen hat, wird schnell zur lächerlichen Figur, gerade wenn es ihm doch wirklich wehtut. Aber auch das zu wissen, hilft nicht weiter. Genauso wenig wie ein anderer Trick. Man kann versuchen sich einzureden, dass wir diese Wörter wieder in Besitz nehmen müssen, dass sie uns gehören, dass die Nazis sie nur gestohlen hatten.
Ich habe es ausprobiert. Es funktioniert nicht. Die Haftung an den Wörtern ist stärker. Man wird sie nicht los. STEFAN REINECKE