DER ZENTRALRAT DER JUDEN MUSS AUF DIE PROGRESSIVEN ZUGEHEN : Das pluralistische Prinzip
Die Auseinandersetzung zwischen dem Zentralrat der Juden in Deutschland und der Union progressiver Juden hat sich so zugespitzt, dass die Intervention des Bundeskanzlers erforderlich wurde. Misslich, denn die Bundespolitik sollte sich, dem Gebot der weltanschaulichen Neutralität folgend, aus Problemen der Religionsgemeinschaften heraushalten. Das gestrige Treffen zeigte den Bundeskanzler zwar nicht als Salomon, wohl aber als geschickten Moderator. Denn der Rückverweis an die streitenden Parteien ist der einzig mögliche Weg, um jeden Ruch des Staatsinterventionismus zu vermeiden – und mit sanftem, indirektem Druck diese leidige, politisch kontraproduktive Affäre beizulegen.
Hierbei wird es der Zentralrat sein, der auf die „Progressiven“ zugehen muss. Der Staatsvertrag des Bundes mit dem Zentralrat vom letzten Jahr bezog sich – Religionsfragen sind Ländersache – auf Aktivitäten des jüdischen Führungsgremiums. Damit war logisch eine pluralistische Konzeption auch in der Verwendung der Bundesmittel verbunden, ganz einfach, weil das jüdische Leben hierzulande religiös und organisatorisch vielfältig ist, auch wenn bei den progressiven Juden nur 2.000 Gläubige organisiert sind.
Gerade die Verletzung des pluralistischen Prinzips stand im Mittelpunkt der Beschwerde der progressiven Juden. Sie weisen den Vorwurf zurück, sie wollten sich nicht der organisatorischen Struktur der vom Zentralrat vertretenen Gemeinden fügen. Es wird vielfältig Klage geführt, zum Beispiel, dass liberale Gemeinden vor der Aufnahme erst die Hürde der Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts nehmen müssten, dass ihre Förderanträge abgelehnt würden. Diese Beschwerden werden vom Zentralrat mit dem Argument zurückgewiesen, die Bundesfördermittel seien ausschließlich für Aufgaben auf Bundesebene bestimmt. Aber welche rechtliche Festlegung verbietet dem Zentralrat, seinerseits Aktivitäten auf Landes- oder Ortsebene zu fördern? Das tut er im Übrigen auch, freilich nicht zugunsten der Progressiven. CHRISTIAN SEMLER