DER UKRAINISCHE PRÄSIDENT TRIFFT PUTIN IN MOSKAU AUF AUGENHÖHE : Hört die Elite orange, sieht sie rot
Der erste Auslandsbesuch führte den neuen ukrainischen Präsidenten Wiktor Juschtschenko zum mächtigen Nachbarn nach Moskau. So war es schließlich immer. Kleinrusse trifft auf Großrusse – in der russischen Bezeichnung für die Ukrainer spiegelte sich immer auch ein Subordinationsverhältnis wider. Die Wahl Juschtschenkos konfrontierte den Kreml mit einer unliebsamen Erkenntnis: Die Welt um ihn herum verändert sich, Völker lassen sich vom Kreml nicht mehr domestizieren, Legalität bedeutet außerhalb Russlands nicht mehr Treue zur Führung. Zum ersten Mal spricht ein ukrainischer Präsident auf gleicher Augenhöhe mit seinem russischen Pendant. Das ist für beide eine neue Erfahrung.
Moskau tut sich schwer mit der Ehrenbezeugung des Kiewers. Wie das Treffen verlaufe, werde davon abhängen, in welcher Stimmung der Präsident anreise, verlautete aus der russischen Machtzentrale. Dort hat man in den letzten Tagen Kreide gefressen. Die Laune des Siegers dürfte unterdessen bestens sein. Und Moskaus Elite sieht in dem Ukrainer auch einen Sendboten einer ungewissen Zukunft. Hört die Elite orange, sieht sie rot. Die bange Frage, ob das Beispiel der westlichen Nachbarn auch im eigenen Land eines Tages Schule machen könnte, treibt Moskau, das wegen verfehlter Sozialpolitik so stark wie nie zuvor unter Druck geraten ist, um. Und da auch imperiale Ablenkungsmanöver – wie die russische Intervention in Kiew – keinen Erfolg mehr versprechen, ist guter Rat teuer. Statt symbolischer wird nun Realpolitik verlangt.
Juschtschenko versteht sich auf beides – die Chance, sich in Moskau als eigenständiger Politiker zu präsentieren, sollte er nutzen. Denn nirgends dürfte der Repräsentant einer Nation, die unversehens auf der politischen Landkarte Europas auftauchte, jemals wieder so ernst genommen werden wie beim ratlosen großen Bruder. Es wird noch einige Zeit dauern, bis der Westen in dem Ukrainer mehr sieht als den Emissär eines unglücklichen Steppenvolkes, das über Nacht an die Fleischtöpfe der EU drängt. Dass Europa größer geworden ist, will man weder in Brüssel noch Moskau wahrhaben. KLAUS-HELGE DONATH