DER PROTEST GEGEN DEN SOZIALABBAU BLEIBT UNTER NIVEAU : Populismus ist Mist
Na also, es klappt doch: Ziemlich genau ein Jahr nach den Massenprotesten gegen den Irakkrieg gingen die Europäer an diesem Wochenende wieder zeitgleich auf die Straße – diesmal aus Protest gegen den Umbau der Sozialsysteme auf dem Kontinent. Erneut zeigt sich, dass sich längst eine gemeinsame Öffentlichkeit formiert hat. Rund 250.000 Demonstranten allein in Berlin – das ist für deutsche Verhältnisse eine stolze Zahl und für die deutschen Gewerkschafter allemal ein Grund, die Brust zu schwellen.
Doch der scheinbare Sieg könnte sich schon allzu bald als trügerisch erweisen. Gewiss: Eine Kundgebung ist nicht der Ort, um ausgefeilte Konzepte für den künftigen Sozialstaat zu erörtern. Aber war es wirklich nötig, dass DGB-Chef Michael Sommer das sprachliche Niveau des neuen SPD-Vorsitzenden sogar unterbot? „Opposition ist Mist“, hatte Franz Müntefering verkündet, der Gewerkschafter erwiderte: „Sozialabbau ist Mist“ – um gleich noch eine Etage tiefer zu steigen: „Lasst es einfach sein.“
Mit derlei grob geschnitzten Phrasen sind die Gewerkschaften auf dem besten Weg, ihren kurzfristigen Triumph in eine langfristige Niederlage zu verwandeln. Rentenkassen, die zwischen wachsender Lebenserwartung und einer sinkenden Zahl an Beitragszahlern zerrieben werden; ein Gesundheitssystem, in dem sich die Branche weitgehend selbst bedient; die kaum lösbaren Wirtschaftsprobleme im Osten, die nach neuesten Schätzungen die Hauptschuld an der deutschen Wachstumsschwäche tragen: All diese Probleme verschwinden ja nicht dadurch, dass eine Regierung auf Geheiß des DGB die Hände einfach in den Schoß legt.
Die wohlige Illusion, die Regierenden sollten am besten alles beim Alten lassen, hegen freilich nicht nur die Deutschen allein. Auch in Frankreich bekam die konservative Regierung dieses Phänomen bei den jüngsten Regionalwahlen zu spüren. Nichts eint die Europäer so sehr wie der gemeinsame Wunsch nach Frieden und Wohlstand, das haben die Demonstrationen gegen Irakkrieg und Sozialabbau eindrucksvoll gezeigt.
Dieses verständliche Bestreben paart sich aber mit einer beunruhigenden Weigerung, unangenehme Tatsachen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen – insbesondere dann, wenn sie sich außerhalb der EU abspielen. Die Festung Europa gibt es nicht allein in den finsteren Plänen von Innenpolitikern, sondern auch in vielen vermeintlich progressiven Köpfen. Doch die Europäer müssen sich auch selbst die Frage stellen, wie sie ihre Werte unter veränderten Bedingungen verteidigen können. Bei aller berechtigten Kritik an den konzeptionslosen Reformversuchen von Rot-Grün: Politikerschelte allein genügt dafür nicht. RALPH BOLLMANN