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Archiv-Artikel

DER JULIANISCHE KALENDER, ARABISCHER FRÜHLING UND NSU-MORDE – AUF DER SUCHE NACH DEM LETZTEN SAUERSTOFF UND DEM KOLLEKTIVEN WAHN Das Publikum murrt

VON SONJA VOGEL

Facebook-Revolution: unser Ding!“, summe ich M. honigsüß ins Ohr. Donnerstag ist unser Ausgehtag. Diesmal aber soll mich M. in die Humboldt-Universität begleiten, zum Abschlussvortrag der Mosse-Lectures. „Arabischer Frühling: Wunschtraum oder Albtraum?“

Doch M. steht auf Bier und Techno, mag weder den Marmor im Uni-Foyer noch das cordaffine Publikum. „Du bist doch Perser …“, flöte ich. „Miau!“, faucht er und legt auf.

Im hell erleuchteten Senatssaal sind schon zur vollen Stunde alle Plätze belegt. Noch vor Ablauf des akademischen Viertels haben die 200 Gäste den letzen Sauerstoff veratmet. Daher ist es ganz still, als der ARD-Mann Jörg Armbruster ans Mikro tritt. Vor zwei Jahren stürzten die ÄgypterInnen Mubarak. Seither hat sich einiges geändert: Eine Zivilgesellschaft entwickelt sich, die Pressefreiheit ist in der Verfassung garantiert, die Aufstände wurden zum Exportgut. Und doch gewinnen Radikalreligiöse an Einfluss. Was also? Wunsch- oder Albtraum?

Armbruster windet sich. Mit fester Fernsehstimme kritisiert er die Rolle der Muslimbrüder in der Regierung. Die Angst vor deren Militanz, die im Westen umgeht, teilt er nicht. Ägypten, eine Theokratie à la Iran? Eher nicht.

Vielfältige Konflikte

Für die ägyptische Perfomancekünstlerin Laila Soliman kann die Revolution nur durch die Bekämpfung der Armut gerettet werden. Die vielfältigen Konflikte etwa zwischen Städtern und Landbevölkerung erklärten, „warum die Bevölkerung auf dem Mittelweg“ bleibe. In der sinkenden Wahlbeteiligung sieht sie nicht das Scheitern der Demokratie, sondern neue Unzufriedenheit. Das Publikum murrt. Armbruster pflichtet bei: Die Revolution braucht Zeit. Schließlich waren auch die Deutschen erst 1945 zur Demokratie gezwungen worden.

Das sitzt. Niemand lamentiert mehr über die Unvereinbarkeit von Islam und Demokratie. Nachdem dann der obligatorische Verrückte aus der letzten Reihe die ARD der Vorbereitung eines Krieges gegen den Iran zieh, strömt das Publikum erleichtert schwatzend aus der Uni.

Am nächsten Tag: Kriegsrat im Café Atlantic. S., der im Iran aufgewachsen ist, trinkt seinen Kaffee schwarz. Er hat düstere Gedanken. Feudalbauern, durch Twitter in die Demokratie katapultiert? Déjà-vu. Ginge es nach ihm, flösse nun viel Geld von der EU, aus Katar, ganz egal, um Ägypten vor dem iranischen Weg zu bewahren.

Da am Montag nach dem julianischen Kalender das Jahr 2013 beginnt, fahre ich am Sonntag zum Umtrunk nach Charlottenburg. Hier wird mit Wein und Eiern (Spitze an Spitze!) angestoßen, gläubig orthodox oder im 16. Jahrhundert – als der Rest der Welt auf den gregorianischen Kalender umstellte – hängengeblieben ist aber niemand. Fast wie in Jugoslawien, jubiliert ein Gast. Da hatte man einfach drei Wochen lang alle erdenklichen Feiertage begangen und sich Suff und Völlerei hingegeben, um Konflikte zu vermeiden.

Beschwingt von dem Zeremoniell aus einem Land, das trotzdem unterging, fahre ich nach Neukölln. Die Antideutsche Aktion hat ins Laidak, wo sich die antideutschen Stars zu Sternis treffen, zur Diskussion über Terror und Wahn geladen, darüber, wie die Vertuschung der NSU-Morde ganz Deutschland als Irrenhaus entlarvt hat.

Im übervollen Gastraum bekommt die Antifa, die über Jahre Daten sammelte, ohne je an einen Nazi-Untergrund zu denken, genauso ihr Fett weg wie die Behörden. Und wie reagierten die ganz Normalen, die rassistischen und antisemitischen Hass mit dem rechten Rand teilen? „Empört, fassungslos“ – und kein bisschen selbstreflektiert. Vielleicht ist genau diese Mischung aus Inkompetenz und Impertinenz Ausdruck für den kollektiven Wahn?