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Archiv-Artikel

DER ARBEITSMINISTER GLAUBT AN VOLLBESCHÄFTIGUNG – TROTZ DER FAKTEN Das Ende einer charmanten Idee

Es bleibt erstaunlich, aber Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) nutzt jede Gelegenheit, um zu behaupten, Vollbeschäftigung sei möglich. Diesmal reichte ihm als Anlass, dass die offizielle Zahl der Arbeitslosen im August erneut leicht gesunken ist und nun bei 3,196 Millionen liegt. Dabei freut Scholz besonders, dass sich der Arbeitsmarkt scheinbar krisenfest zeigt. Denn die Arbeitslosigkeit nimmt ab, obwohl die Konjunktur ins Minus rutscht! Das muss doch einfach beweisen, dass Vollbeschäftigung möglich ist.

Der Optimismus des Arbeitsministers wirkt jedoch etwas überhastet. Erfahrungsgemäß dauert es rund ein halbes Jahr, bis die Firmen auf eine Krise reagieren und mit Entlassungen beginnen. Erst im Winter wird man also wissen, welche Folgen die Konjunkturdelle auf dem Arbeitsmarkt hinterlässt. Vor allem aber bilden die offiziellen Zahlen nur sehr ungenügend ab, wie viele Menschen ohne hinreichendes Einkommen sind. Allein im August gab es 5,734 Millionen erwerbsfähige Hartz-IV-Empfänger. Doch nur 49 Prozent von ihnen waren arbeitslos gemeldet.

Von Vollbeschäftigung ist also bisher nichts zu sehen. Dass Scholz dennoch faktenwidrig auf diesem Ziel beharrt, hat ideologische Ursachen. Seit der Nachkriegszeit gründet die Bundesrepublik auf dem Versprechen, dass jeder am wachsenden Wohlstand teilhaben kann, wenn er denn nur arbeitet oder lebenslang gearbeitet hat. Profitieren sollte, wer auch leistet. Kurz: Vollbeschäftigung sollte für Gerechtigkeit sorgen.

Eine charmante Idee, aber leider ist sie obsolet. Nicht nur dass Vollbeschäftigung unerreichbar scheint – es ist auch zweifelhaft, ob Arbeit allein für Fairness sorgen kann. In den vergangenen Jahren hat die Bundesrepublik ein neues Phänomen erlebt, wie das gewerkschaftsnahe Forschungsinstitut IMK dokumentiert: Die Wirtschaft boomte und dennoch sank das Realeinkommen der Arbeitnehmer. Es profitierten allein die Kapitalbesitzer. Das Versprechen hat sich also erledigt, dass Leistung zur Gerechtigkeit führt. Das ist eine historische Zäsur, deren politische Folgen unabsehbar sind. Aber es hilft nicht, wenn der Arbeitsminister die Realität einfach ignoriert. ULRIKE HERRMANN