DEM VIERTEL KULINARISCH AUF DER SPUR BLEIBEN : Genug Tier gegessen
VON RENÉ HAMANN UND AMBROS WAIBEL
Die einen machen auf, die anderen zu. Es sollte ein würdiger Abschluss werden in diesem neuen, jungen Restaurant an der Sanderstraße Ecke Hobrecht, dort, wo noch kurz vorher ein türkischer Kulturverein gewesen war. Über den wir nichts zu sagen wissen – wir schreiben aber auch keine humangenetischen Manifeste. Wie Maxim Biller einst sinngemäß sagte: Ich liebe die Türken – aber was habe ich mit ihnen zu tun? Das Unglück der Menschheit besteht darin, dass manche einfach nicht vor sich hin leben können.
Jetzt jedenfalls hieß der Laden „Pika Pika“ und war ein aufgeräumtes Lokal, genau ausgerichtet auf die jüngeren und älteren Neuankömmlinge in diesem Kiez. Allerdings ist es noch etwas kahl hier, kühl und karg; an der Rückwand hingen alte Koffer drapiert, was den einen von uns gleich nostalgisch machte. Der andere fühlte sich leicht visuell unterfordert, da half auch der charmante fränkische Akzent der Bedienung nicht viel.
Das Pika Pika sah nun mal aus wie noch nicht wirklich fertig. Die Tische gaben sich individuell; aus der Anlage schlich merkwürdiger Deutschlandfunk-Jazz, der in einer Easy-Listening-Version von Michael Jacksons „Human Nature“ gipfelte; und die Karte wurde erst eigens mit Kreide an die Tafel geschrieben, ein Umstand, der zwei Männer in schweren Lederjacken (Russen? Mafia?) dazu trieb, den Laden gleich wieder zu verlassen.
Aber es gab hier Entrecote, und zwar immer. Ein sehr dunkles, gegrilltes Stück Fleisch (rostbratenartig etwas zu dunkel, etwas zu herb, aber von prächtiger Qualität und perfekt medium) mit kleinen Kroketten und Juliennes von der, äh, Schalotte? Wahrscheinlich! Wirkliche Begeisterung löste das Essen nicht aus, trotz freundlichen Services, des guten Biers und des nicht minder guten Weins. Erst das inkonsequente Dessert, das nämlich aus einer Crema catalana bestand und nicht aus einer Crème brûlée, rettete den Gesamteindruck ins Positive.
Der Auftrag konnte als abgeschlossen gelten. Wir hatten genug Tier gegessen, wir waren unserer Zeit in diesem Viertel kulinarisch auf der Spur geblieben. Alt und älter als der Rest waren wir trotzdem. Draußen wurde es Winter. Die Entrecotes hatten uns getröstet. Die letzten zwanzig Jahre seines Lebens soff sich Goethe jeden Tag ab Mittag gepflegt einen an. In der Frühe schrieb er den „Faust“. Die jungen Romantiker schwenkten da schwarz-rot-goldene Fahnen und begannen, gegen die Juden zu hetzen. Wir hatten vor, Einzelne zu bleiben, Asoziale. Oder doch nicht?
Die Frage war jetzt, wohin sich die Gentrifizierung weiterbewegen würde. Auf die andere Seite Neuköllns, insbesondere den Schillerkiez, war sie schon vorgedrungen. Treptow schien noch ähnlich resistent zu sein wie Schöneberg oder Charlottenburg im Westen. Und der Wedding würde eh nie kommen. Immerhin bleibt der Wohnungsmarkt auf Jahre hinaus entspannter als beispielsweise in der heimlichen Hauptstadt des Rheinlands, wo es schließlich keine Traufhöhenregelung, dafür aber eine Aufzugspflicht für Neubauten ab dem vierten Stock gab. Was dazu führte, dass besonders in der Kölner Altstadt gern unterhalb dieser vier Stockwerke gebaut wurde. Oder dazu, dass die Mieten in höheren Neubauten erst einmal unerschwinglich waren. So ein Aufzug will ja gegenfinanziert sein.
Und hier, im hellen Pika Pika, hingen alte Koffer an der Wand. Sorgten für Anwandlungen. Wohnungen, die Sexualobjekte aufreißen konnten. Irgendwo muss ja ein Anfang gemacht sein. In jedem Ende ein Anfang, oder so. Ob der Nudelauflauf auch mal wieder in Mode kommen wird? Wie die Schlaghose? Süß suhlten wir uns im Nichtwissen. Die Zukunft ist eh unvermeidlich.