DEBATTE: In Karlsruhe gibt es nichts zu holen
■ Die Verfassungsklage der CDU/CSU gegen die Fristenregelung hat wenig Chancen/ Dem Verfassungsrecht ist der Rückzug aufs Strafrecht versperrt
In einem Land, das die kompetenzstärkste Verfassungsgerichtsbarkeit der Welt hat, ist die Versuchung der parlamentarischen Minderheit groß, nach Karlsruhe zu gehen, um eine im Parlament erlittene Abstimmungsniederlage höchstrichterlich „korrigieren“ zu lassen. Die sogenannte Normenkontrollklage erlaubt es einem Drittel der Mitglieder des Bundestags (oder einer Landesregierung), jedes beliebige Gesetz „abstrakt“, das heißt, ohne in konkreten Rechten betroffen zu sein, auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüfen zu lassen. Nur auf diese Weise konnte das Abtreibungsurteil von 1975 überhaupt zustande kommen: Eine Frau hätte schwerlich per Verfassungsbeschwerde vortragen können, sie werde duch die teilweise Rücknahme der staatlichen Strafgewalt in ihren Rechten verletzt.
Der Abtreibungsparagraph berührt wie kaum eine andere politische Frage in hohem Maße das Verhältnis von Recht und Moral in einer von patriarchalischen Strukturen geprägten Gesellschaft. So nimmt es nicht wunder, daß die erneut parlamentarisch unterlegenen Kräfte aus der CDU/CSU sich anschicken, einen zweiten Gang nach Karlsruhe zu inszenieren. Die bayerische Landesregierung hat einen solchen Schritt bereits während der Debatte angedroht.
Es spricht indes viel dafür, daß dieses Mal in Karlsruhe für die Unionschristen nichts zu holen ist: Denn die von der interfraktionellen Bundestagsmehrheit in der Nacht zum Freitag verabschiedete Fristenregelung mit Beratungszwang ist verfassungsgemäß. Das gilt selbst nach den — äußerst fragwürdigen — Maßstäben des Abtreibungsurteils von 1975.
Der sogenannte Gruppenantrag läuft der Sache nach auf eine modifizierte Fristenregelung hinaus. Denn in einer Dreimonatsfrist soll die — vom Strafrecht symbolisch noch „mißbilligte“ — Abtreibung unter bestimmten Bedingungen nicht rechtswidrig sein. Die Unterschiede zum 1975 in Karlsruhe abgeblockten Gesetz sind gleichwohl unverkennbar. Das Verfassungsgericht hat zwar den Staat darauf verpflichtet, das Rechtsgut „ungeborenes Leben“ zu schützen. Die scharfe Waffe des Strafrechts müsse aber nur dann eingesetzt werden, wenn andere geeignete Schutzmaßnahmen nicht greifen. Und eben hier konstruierte das Gericht den Fallstrick gegen die Fristenregelung. Der bescheinigte es kurzerhand, ihre sozial flankierenden Maßnahmen reichten nicht aus, jene durch die generelle Freigabe der Abtreibung für die ersten drei Monate angeblich gerissene „Schutzlücke“ zu schließen. Außerdem reiche eine bloß neutral gehaltene Beratung nicht aus.
Gerade hier haben die Autoren des Gruppenantrages genau aufgepaßt: Die zu Recht kritisierte „Zwangsberatung“ verdankt ihren erstaunlichen Stellenwert in erster Linie den Vorgaben der Karlsruher Grundgesetzinterpretation. So wurde das neue Gesetz, im Gegensatz zur damaligen Fristenregelung, ausdrücklich mit dem Postulat überschrieben, die Beratung solle dem Lebensschutz dienen. Beratender und abtreibender Arzt dürfen außerdem nicht identisch sein. Schließlich muß eine Karenzzeit von drei Tagen nach der Beratung eingehalten werden. Umfangreichere sozial flankierende Maßnahmen tun ein übriges, das allseits hochgehaltene Ziel des Lebensschutzes mit „weicheren“ Mitteln als denen des Strafrechts zu verfolgen.
Anstoß könnte das Verfassungsgericht allenfalls an der Tatsache nehmen, daß die (nicht zu dokumentierende) Beratung der Schwangeren keine konkreten Begründungspflichten auferlegt und ohne weiteres bescheinigt werden muß. Mit anderen Worten: Dritte haben keinerlei formellen Einfluß auf die Entscheidung der zum Ratsuchen Verpflichteten. An diesem Detail der Beratung wird indes das neue Abtreibungsrecht nicht scheitern. Denn inzwischen steht fest, daß das Strafrecht ein untaugliches Mittel ist, Abtreibungen zu verhindern. Dies geht aus einer breit angelegten rechtsvergleichenden Studie des Freiburger Max- Planck-Instituts hervor. Damit aber ist dem Verfassungsgericht der Rückzug auf das Strafrecht versperrt. Und hinsichtlich der allein bleibenden sozialpolitischen Alternativen muß das Gericht den (von ihm in ständiger Rechtsprechung anerkannten) Spielraum des Gesetzgebers respektieren.
Die modifizierte Fristenlösung des Jahres 1992 wird also nicht mit den Argumenten des Jahres 1975 verworfen werden können. Abgesehen davon zeugt die geradezu unterwürfige Fixierung auf das damalige Urteil ohnehin nicht von emanzipierter Rechtspolitik. Beim Parteienkampf um die Interpretation des Grundgesetzes wird regelmäßig ignoriert, daß das Verfassungsgericht an seine eigenen Entscheidungen nicht gebunden ist — sich also eines Besseren besinnen darf. Das Abtreibungsurteil gibt dazu allen Anlaß. Es war auch in Fachkreisen von Anbeginn außerordentlich umstritten und wurde als höchstrichterliche Entgleisung heftig attackiert. Überdies ging die Kontroverse mitten durch den Ersten Senat selbst: die Richterin Rupp von Brünneck und der Richter Simon haben das Urteil ihrer Kollegen in einer gemeinsam formulierten „abweichenden Meinung“ einer scharfen, bis heute gültigen Kritik unterzogen. Aus der Verfassung könne unter keinen Umständen die Pflicht des Gesetzgebers hergeleitet werden, die Abtreibung in jedem Stadium der Schwangerschaft unter Strafe zu stellen.
Daß die Abtreibungsfrage auch ganz anders gelöst werden kann, zeigte der US-amerikanische Supreme Court in einer kurz zuvor ergangenen Entscheidung, die weit über die Karlsruher Dissidenten hinausging. Das höchste Gericht der USA stellte aus der Perspektive des Grundrechts der betroffenen Frauen fest, daß eine Bestrafung der Abtreibung innerhalb der ersten sechs Schwangerschaftsmonate das Recht der Frau auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit verletze. Ein weltanschaulich neutraler Staat dürfe seinen Bürgerinnen keine „biologistische Lebenstheorie“ aufzwingen, sondern den Embryo erst dann schützen, wenn dieser selbständig lebensfähig sei.
Die politische Debatte im Bundestag (die übrigens, was nicht allzu oft im Hohen Haus vorkommt, über weite Strecken von Frauen bestritten wurde, die von der Sache her argumentierten, ohne sich viel um Fraktionsfronten zu kümmern) wird also aller Voraussicht nach das Schlußwort in Sachen § 218 sein. Es gibt keinen plausiblen verfassungsrechtlichen Grund, die hochkontroverse Abtreibungsfrage dem Dafürhalten von sieben Richtern und einer Richterin zu überantworten. Urteile aus der Karlsruher Residenz können niemals jene die Gemüter beruhigende legitimierende Wirkung haben, die eine Entscheidung des demokratisch gewählten Parlaments entfaltet. Horst Meier
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