DAS KÜNFTIGE EUROPA: Noch ist die EG nicht obsolet
Die Veränderungen in Osteuropa stellen die Europäische Gemeinschaft vor neue Herausforderungen. Gegenwärtig ist sie strukturell nicht in der Lage, mit der veränderten Weltlage angemessen umzugehen. Der Umgang mit weltwirtschaftlicher Konkurrenz, die Bewältigung ökologischer Krisen und der Überblick über die Migrationswege von Süd nach Nord erfordern ein neuartiges Europa. Noch gibt es genug Interesse an der EG, um diese als möglichen Kern eines Europas der Zukunft erscheinen zu lassen. Doch muß mehrgetanwerden, um dem Risiko einer Marginalisierung des Konzepts Europäische Gemeinschaft zu begegnen. ■ VON RICHARD DAVY
Die Beschlüsse, welche die EG in den nächsten zwei Jahren faßt, werden über ihr Schicksal entscheiden. Wenn die Mitgliedstaaten vernünftig vorgehen, wird sie wachsen und gedeihen. Doch werden die Menschen nicht immer von Vernunft geleitet, und so darf man Überraschungen nicht ausschließen.
Der ursprüngliche Gedanke der Europäischen Gemeinschaft war es, die Nationalismen und andere Antagonismen auszuschalten, die jahrhundertelang Kriege in Europa bewirkt hatten. Dieses Ziel wurde weitestgehend erreicht. Welche Meinungsunterschiede es innerhalb der Gemeinschaft auch immer geben mag – ein Krieg zwischen den Mitgliedern ist unvorstellbar.
Eine wachsende Integration bedarf daher neuer Zielsetzungen. Diese werden politischer und wirtschaftlicher Art sein. Die logische Notwendigkeit einer wirtschaftlichen Integration hat sich bereits durchgesetzt. Es war Druck aus der Geschäftswelt, nicht so sehr aus dem politischen Lager, der eine erstarrte EG in den 80er Jahren zu Prinzipien der Harmonisierung motivierte, zu qualifizierten Mehrheitsbeschlüssen und zur Vision einer europäischen Währung. Dieser Druck wird wohl kaum nachlassen. Unternehmer und Manager sind es leid, sich mit Grenzfragen, Währungsunterschieden und anderen formellen und informellen Hindernissen des europäischen Handels abplagen zu müssen. Die meisten werden auf einen Einheitsmarkt drängen, wenn auch einige wenige den selektiven Protektionismus nicht gerne aufgeben wollen.
Längerfristig werden wirtschaftliche Erwägungen dazu führen, die Rolle Europas im Welthandel neu zu überdenken. Für viele Handelszweige der Industrie und Finanzwelt ist der Nationalstaat weitgehend überholt – zuweilen von Nutzen, aber öfter ein Hindernis. Nicht nur multinationale Konzerne, sondern auch kleine Unternehmen zögern nicht, Einkauf, Produktion und Verkauf von einem Land ins andere zu versetzen. Die meisten Fertigungsprodukte sind heute aus Komponenten zusammengesetzt, die in verschiedenen Ländern hergestellt werden. Regierungen sind nur insofern relevant, als sie den Wettbewerb fördern oder verbieten.
Die EG wird dadurch kurzfristig nicht obsolet. Zuerst einmal wird die Reaktion sein, daß Brüssel eine stärkere Verhandlungsposition eingeräumt wird. Sobald Nationalstaaten nicht mehr die wirtschaftlichen Interessen ihrer Bevölkerung in den turbulenten Verhandlungen eines Weltmarktes vertreten können, werden sie notgedrungen nach einer größeren Gemeinschaft Ausschau halten, die mehr Gehör findet. Sie werden Brüssel bitten, für sie zu sprechen, was den Druck zu einer Vertiefung der Integration verstärkt. Doch längerfristig wird es nicht haltbar sein, Europa nur als die vergrößerte Version eines nationalen Marktes zu sehen, der mit anderen Märkten Handel treibt. Als Teil eines komplexen, eng verknüpften Weltmarktes ist Brüssels Macht ebenso begrenzt wie die nationale Souveränität der Mitgliedsländer durch Brüssel eingeschränkt ist.
Somit sind Überlegungen nötig, auf welcher Ebene Beschlüsse am besten gefaßt werden. Lokale Behörden könnten in gewissen Bereichen gestärkt werden, während andere Entscheidungsbereiche an höhere Behörden zu übertragen wären. Dies verringert die Rolle des Nationalstaates: Er ist für bestimmte Entscheidungen zu groß, für andere wiederum nicht groß genug. Eine Entwicklung in diese Richtung würde Brüssel zumindest in einigen Bereichen stärken.
Mittlerweile erweitert sich der ursprüngliche politische Auftrag der EG um Hilfe zur Überwindung der Nationalismen Osteuropas. Die Scheinintegration des COMECON und des Warschauer Paktes hat die Bevölkerung um 40 Jahre Erfahrung in wirklicher Kooperation gebracht. Es wird ihnen nicht leichtfallen, ihre soeben gewonnene Souveränität aufzugeben. Doch wenn sie klug sind, werden sie es tun, vorausgesetzt die Europäische Gemeinschaft reagiert in der richtigen Art.
Dafür muß sie ihre Struktur ändern. Den Staaten Osteuropas eine außerordentliche Mitgliedschaft anzubieten ist ein nützlicher erster Schritt, der diese aber nur zufriedenstellen kann, wenn sie die Gewißheit haben, daß ihnen die Türe offen steht, sobald sie für eine volle Mitgliedschaft reif sind. Einige unter ihnen werden äußere Anreize brauchen, um die parlamentarische Demokratie zu konsolidieren und die volle Integration mit Westeuropa voranzutreiben. Derzeit wirken sie entmutigt, denn sie wissen, daß weder die Politiker noch die Institutionen der Gemeinschaft mit einen großen Zustrom von neuen Mitgliedern fertig werden.
Der einzige Weg, neue Mitglieder aufzunehmen, ohne die schon erreichte Integration zu gefährden, ist die Neuordnung hin zu einer föderalen Struktur mit einer zentralen Exekutive, kontrolliert durch ein gestärktes Europaparlament und durch ein Oberhaus als Repräsentant der nationalen Regierungen. Weder ist eine Kommission, in der neue wie alte Mitglieder vertreten sind, funktionsfähig, noch wird es sinnvoll sein, zuviel Macht einem nur zeitweilig agierenden Ministerrat zu überlassen, der aus Politikern besteht, die hauptsächlich aus nationalen Wahlen hervorgingen. Radikale Reformen sind daher notwendig.
Diese Logik wird sich vorerst nicht durchsetzen, da die nationalen Regierungen sich einer Machtbeschneidung widersetzen werden und auch das Wahlvolk in vielen Ländern seine Zweifel haben könnte. Doch wenn die Forderungen einer Erweiterung mit den Forderungen einer Vertiefung vereinbart werden sollen, ist das der folgerichtige Weg, den es einzuschlagen gilt.
Somit hat die EG zumindest in den nächsten 20 Jahren nicht ausgedient. Sie wird auch nicht von Deutschland beherrscht werden, vorausgesetzt der Integrationsprozeß läuft vernünftig ab. Das mächtige und anspruchsvolle Mitglied Deutschland wird nicht völlig immun sein gegen die korrumpierende Wirkung der Macht, doch ist es dann nur eines von ungefähr 22 Mitgliedern. Es ist auf die Mitarbeit anderer Staaten angewiesen, und einseitige deutsche Entscheidungsmöglichkeiten sind damit eingeschränkt. Für eine Weile wird es die Hilfe der Gemeinschaft, des einheitlichen Marktes und die Macht Brüssels benötigen, um Osteuropa auf die Beine zu helfen und seine eigenen Interessen am Weltmakt vertreten zu können.
Wenn es vernünftig zugeht, kann eine bis an die russische Grenze vergrößerte Europäische Gemeinschaft heranwachsen, mit einer einheitlichen Währung, einer starken zentralen Exekutive und einem starken Zweikammernparlament. Nationale Regierungen würden dann möglicherweise obsolet, da ihre Entscheidungsebene den Herausforderungen nicht mehr entsprechen wird. Statt dessen sind starke regionale und lokale Entscheidungsträger gefragt, mit direkter Verbindung nach Brüssel, wie sie einzelne schon besitzen. Die Sowjetunion in ihrer heutigen Form wird es wahrscheinlich nicht mehr geben. Die baltischen Staaten werden Mitglieder der Gemeinschaft. Die asiatischen Teilrepubliken wenden sich dem Osten zu. Rußland und der Ukraine wäre eine Art Assoziierungsstatus zu gewähren, da sie wegen ihrer Größe und ihrer Andersartigkeit als Vollmitglieder auszuschließen sind. Als Lieferanten von Rohstoffen und billiger Arbeitskraft werden sie zu Absatzmärkten für europäische Waren heranwachsen.
Aber auch wenn die Vernunft siegt, wird das Leben nicht leicht sein. Zumindest drei größere Herausforderungen könnten für die Gemeinschaft eine große Belastung bedeuten:
–Der steigende Wettbewerb mit Asien und anderen Gebieten mit billiger Arbeitskraft und High-Tech verlangt grundlegende Umstrukturierung der europäischen Industrie. Protektionistischer Druck wird zunehmen. Das könnte auch den Integrationsprozeß verlangsamen, da es Forderungen geben wird, in Europa Gebiete mit billigen Arbeitskräften zu erhalten.
–Umweltfragen gehen seit langer Zeit über nationale Interessen und nationale Grenzen, auch die der Europäischen Gemeinschaft, hinaus. Brüssel wird die Verantwortung für Verhandlungen und Vollzug übernehmen müssen.
–Immigration, vor allem aus Nordafrika, Osteuropa und der Sowjetunion, aber auch aus entfernteren Gebieten, birgt Gefahren anderer Art: die Gefahr, eine Mauer um Europa aufzubauen, wie auch die Gefahr, es nicht zu tun. Die ideale Lösung wäre natürlich, den Wohlstand zu exportieren, aber das könnte schwer möglich sein. Europa könnte sich zu einer Festung menschenwürdigen Lebens entwickeln und eine Mauer aus Einreisebeschränkungen errichten, um so das Leben im Wohlstand vor dem Weltproletariat zu schützen, das an seine Türen pocht. Das würde zu schweren internationalen Spannungen führen. Das Problem stellt sich zwar nicht für Brüssel allein, doch sind die Nationalstaaten nicht in der Lage, es selbst zu lösen.
Soweit das auf Vernunft aufgebaute, wenngleich besorgniserregende Szenario. – Zur Unvernunft ist es aber nur ein kleiner Schritt. Gewaltige Veränderungen in der ganzen Welt stehen uns bevor, die all die Berechnungen Brüssels und der Hauptstädte der Mitgliedstaaten über den Haufen werfen können. Kriege im Nahen Osten, der Dritten Welt oder der Sowjetunion, ja sogar in Zentraleuropa sind in der Lage, die Weltwirtschaft ernsthaft zu zerrütten und die europäische Ordnung zu gefährden. Sie können Europa dazu bringen, sich entweder in eine militärische Großmacht zu entwickeln oder sich hinter hohen Barrikaden zu verschanzen, um dann innerhalb seiner Grenzen mit dem daraufhin unausbleiblichen wirtschaftlichen Niedergang fertig zu werden. Auch ohne Krieg können nationalistische Tendenzen über Zusammenarbeit triumphieren, Protektionismus über reale ökonomische Interessen. Die wenigsten wichtigen Ereignisse werden im voraus erkannt, Warnungen werden in den Wind geschlagen. Das wird sich in Zukunft kaum ändern.
Um Frieden und Wohlstand in der Welt zu garantieren, wird es notwendig sein, neue Energiequellen zu entdecken und Konsumgüter zu entwickeln, ohne dabei Rohstoffquellen zu erschöpfen und die Atmosphäre zu zerstören. In 20 Jahren ist dieses Ziel erreichbar; in der Übergangsphase könnten sich ernsthafte Erschütterungen in den Weg stellen. Europa ist fähig, in der Überwindung dieser Erschütterungen eine kreative Rolle zu spielen; es könnte aber ebensogut von ihnen verschluckt werden.
Richard Davy ist Herausgeber der Zeitschrift New European in Oxford
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