DAS BUNDESVERFASSUNGSGERICHT WERTET STRASSBURGER URTEILE AB : Eine Frage des Stils
Man stelle sich vor, das türkische Verfassungsgericht (oder auch das russische) hätte erklärt, dass Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht zu befolgen, sondern nur „zu berücksichtigen“ seien. Ein Sturm der Empörung wäre losgebrochen: Der Türkei wäre ein zweifelhaftes Verhältnis zu den Menschenrechten unterstellt worden, Russland ein Rückfall in zaristische Willkürherrschaft.
Doch der skandalöse Spruch kommt nicht aus Ankara oder Moskau, sondern vom Bundesverfassungsgericht aus Karlsruhe. Dessen Formulierung („sind zu berücksichtigen“) ist allerdings kurzsichtig und respektlos. Kurzsichtig, weil sie ein falsches Signal in die wackligen Demokratien Osteuropas sendet. Denn sie stärkt dort Kräfte, die finden, dass sich Europa ohnehin zu stark in nationale Angelegenheiten einmischt. Und respektlos ist die Formulierung gegenüber den Richtern in Straßburg. Offensichtlich wollte Karlsruhe demonstrieren, wer in Deutschland bei der Auslegung von Grundrechtsfragen das letzte Wort hat.
Dabei haben die deutschen Richter durchaus bedenkenswerte Argumente auf ihrer Seite: Was passiert, wenn sich die Sachlage nach einem Straßburger Urteil verändert hat? Außerdem weisen sie zurecht darauf hin, dass für deutsche Gerichte im Konfliktfall das Grundgesetz Priorität hat.
Letztlich ist das aber vor allem eine Frage des Stils und des politischen Fingerspitzengefühls. Warum sagten die Karlsruher Richter nicht: „Straßburger Urteile sind zu befolgen. Ausnahmen sind nur möglich, wenn …“? Inhaltlich wäre das kein Unterschied gewesen.
Außerdem ist die Karlsruhe Position fragiler, als es den Anschein hat. Zwar kann Straßburg ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht aufheben, sondern nur beanstanden. Aber es kann der Bundesrepublik Schadenersatz aufbrummen. Eine klare Hierarchie der Gerichte fehlt. Das kann auch eine Chance sein, denn die Gerichte müssen sich in der Sache überzeugen. Die Auslegung der Grundrechte aber darf nicht von juristischen Eitelkeiten bestimmt werden. CHRISTIAN RATH