CHINAS UND DEUTSCHLANDS WIEDERVEREINIGUNG MIT FALSCHEN PARALLELEN : Dankbarkeit ist unnötig
Bei seiner Rede vor Studenten im südchinesischen Kanton (Guangzhou) unternahm der Bundeskanzler einen Ausflug in die Nachkriegsgeschichte, um die deutsche Unterstützung der „Ein-China“-Theorie zu begründen, an der die Volksrepublik eisern festhält und der zufolge Unabhängigkeitsbestrebungen von Taiwan illegal sind. „China“, so Schröder, „hat sich immer für die Einheit Deutschlands eingesetzt. Deshalb ist es für Deutschland selbstverständlich, sich umgekehrt genauso zu verhalten.“
Dieser Satz aus dem Mund des Kanzlers enthält eine ironische historische Pointe. Während die chinesische Politik tatsächlich über die Jahrzehnte am Postulat der deutschen Einheit festhielt, verschwamm in den 70er- und 80er-Jahren in der Bundesrepublik (nicht nur) bei den Sozialdemokraten das Ziel der Wiedervereinigung zu einer Floskel, an der die praktische Politik sich nicht im Mindesten orientierte. Davon abgesehen begegnet die Schröder’sche Dankbarkeitsbezeugung aber auch sachlichen Bedenken, insofern sie die Spaltung Deutschlands und die Spaltung zwischen der Volksrepublik und Taiwan parallelisiert.
Nach der bedingungslosen Kapitulation Nazi-Deutschlands und der Errichtung von Besatzungszonen wurden im Gefolge des Kalten Krieges zwei deutsche Staaten errichtet. In China hingegen etablierte sich, nachdem die Guomindang im Bürgerkrieg geschlagen war, auf deren Zufluchtsinsel Taiwan – unstreitig einem zu China gehörigen Territorium – das Regime Tschiang Kai-Tscheks, die „Republik China“. Während die „deutsche Frage“ deshalb von vorneherein auch völkerrechtlich internationalisiert war, was 1990 in den Zwei-plus-vier-Verhandlungen seinen Ausdruck fand, ist das Verhältnis der Volksrepublik zu Taiwan eine innerchinesische Angelegenheit. Die Loslösung Taiwans von China im Namen des Selbstbestimmungsrechtes würde deshalb eine Übereinkunft, gegebenenfalls eine Volksabstimmung auf dem Festland wie auf der Insel voraussetzen.
Von diesem Problem zu unterscheiden ist die Tatsache, dass das politische System in Taiwan sich schrittweise demokratisiert, während die Volksrepublik in einem autoritären Ein-Parteien-Regime verharrt. Hier müsste Schröder klarstellen, dass jede Verhandlung über die Wiedervereinigung Taiwans und der Volksrepublik nicht nur den Fortbestand des Kapitalismus auf der Insel sichern soll, was die chinesische Regierung mit der Formel „Ein China, zwei Systeme“ bereitwillig konzediert, sondern auch und vor allem die Rechte und Freiheiten der Bevölkerung Taiwans. CHRISTIAN SEMLER