■ Bundeskanzlerin und Bundespräsident wandten sich zum Jahreswechsel an das Volk : Die Kanzlerin erlaubt …
betr.: „Verdammt cool“, taz vom 2. 1. 2006
Echt cool! Ignaz Wrobel und gleich danach Wolfgang Ullrich. Super! Deutlicher kann man es ja gar nicht zum Ausdruck bringen. Kurt Tucholskys Analysen über die deutsche Presselandschaft und deren Akteure gelten heute immer noch.
Also, Herr Ullrich ist ein Fan von Frau Merkel und beseelt vom neoliberalen Zeitgeist. Er schreibt das aber nicht, er nutzt die Neujahrsansprache der derzeitigen Kanzlerin, um den LeserInnen der taz einige der neuen Weisheiten zu verdeutlichen. Er schreibt: „Herr Schröder war mit seinen Inszenierungen geschmacklos. Er (!) schob sein Haupt vor die Kuppel des Reichstages.“ Mensch Schröder, möchte man da ausrufen, Rede halten, Kamera bedienen, Kamera führen und dann noch Bildbearbeitung und Bildregie, ein echter Tausendsassa in der Medienbranche, toll. Hättest Fernsehmann werden sollen und nicht Gasmann.
Ganz anders Frau Merkel. Herr Ullrich schreibt: „Frau Merkel ohne Architektursymbolik, nein, Frau Merkel sieht aus wie immer. Na ja, bis auf die Brille. Die Herkunft aus einem evangelischen Pfarrhaus war diesmal ganz deutlich.“ Woooowh! Alle Kinder aus evangelischen Pfarrhäusern laufen auf einmal von Stylisten aufgebrezelt, von PR-Beratern instruiert und von professionellen Szenengestaltern ausgeleuchtet herum.
Aber das ist ja nur Äußerlichkeit, nur die Inhalte sind es, auf die es zu achten gilt. Frau Kanzlerin erlaubt, Frau Kanzlerin ermahnt, Frau Kanzlerin appelliert, ja, Frau Kanzlerin verbietet sogar das Ausschlafen. Frau Kanzlerin sagt: Was du heute kannst besorgen, verschiebe nicht auf morgen! Frau Kanzlerin sagt, wir sollen in uns gehen und prüfen, ob wir nicht im letzten Jahr zu viel Zeit verschwendet haben.
Ein Redakteur, der sich annähernd in den Fußstapfen eines Ignaz Wrobel bewegt, hätte zumindest die fünf berühmten Journalisten-Ws zur Anwendung gebracht: wer, was, wann, wo und warum. Wer denn, Frau Kanzlerin? Die 50-jährigen Arbeitslosen mit dem Schreiben der 361. Bewerbung? Oder mit dem millionenfach stundenlangen Warten auf den Fluren der Arbeitsagenturen? Oder beim Ausfüllen der Hartz IV-Anträge?
Oder vielleicht beim Anhören, Ansehen und Lesen der vielen Phrasen und Lügen, die PolitikerInnen, Meinungsmacher, Sachverständige, Steuerexperten, Vorstandsvorsitzende, Polit-TalkerInnen und sonstige bedeutende Leute von sich gegeben haben?
REINHARD GOTTORF, Reinheim