Boris Palmer im taz FUTURZWEI-Gespräch : Ein Macher im Rathaus
Sind Kommunen die Orte, an denen Klimapolitik wirklich vorankommt, Herr Oberbürgermeister Palmer?
taz FUTURZWEI: Lieber Boris Palmer, Sie wurden 2006 für einen offensiven Klima-Wahlkampf zum Oberbürgermeister von Tübingen gewählt. Das gab es vorher noch nie. Was haben Sie in 15 Jahren erreicht?
»In meiner Antrittsrede hatte ich für 2020 Klimagerechtigkeit als Ziel formuliert. Damals hieß das für Tübingen 70 Prozent weniger CO2. Das haben wir deutlich verfehlt. Aber auf der anderen Seite ist es das vierfache Reduktionstempo im Vergleich zum Bundesdurchschnitt.«
Boris Palmer
Boris Palmer: Wir haben pro Kopf 40 Prozent weniger CO2-Emissionen in der städtischen Bilanz als 2006. In meiner Antrittsrede hatte ich für 2020 Klimagerechtigkeit als Ziel formuliert. Nach den damaligen Berechnungen hieß das für Tübingen 70 Prozent weniger CO2. Das haben wir deutlich verfehlt. Aber auf der anderen Seite ist es das vierfache Reduktionstempo im Vergleich zum Bundesdurchschnitt. Wir sind also ein ordentliches Stück vorangekommen, aber nicht genug.
Man ist beim Klimaschutz immer schnell bei dem Punkt, dass Erfolge zwar da sind, aber zu gering und zu langsam erzielt werden.
Gemessen an den planetarischen Grenzen und der physikalischen Aufgabenstellung eindeutig ja.
Der Mann: Oberbürgermeister von Tübingen seit 2007. Gewann mit Klimawahlkampf gegen eine SPD-Amtsinhaberin (50,4 Prozent), dann 2014 Wiederwahl gegen eine CDU-Herausforderin (61,7). Zuvor Grüner Landtagsabgeordneter. Studierter Mathematiker, Abi 1,0.
Geboren 1972 in Waiblingen, Baden-Württemberg, drei Kinder. Lebt in Tübingen.
Das Werk (u. a.):
• Eine Stadt macht blau. Politik im Klimawandel – das Tübinger Modell. Kiwi 2009
• Erst die Fakten, dann die Moral. Warum Politik mit der Wirklichkeit beginnen muss. Siedler 2019
• Facebook-Account. Tägliche Beiträge und Diskussionen zur Kommunal-, Bundes- und Weltpolitik
Wir wollen von Ihnen wissen, wie man ins klimapolitische Machen kommt, was nationaler und internationaler Politik bisher nicht gelingt. Die These lautet, dass Kommunen die Orte sind, in denen gemacht werden kann. Stimmt das?
Die wichtigste Entscheidung besteht vermutlich darin, nicht auf andere zu bauen. In der Klimapolitik gibt es ein sehr beliebtes Spiel. Man verweist auf die EU, auf die Weltklimakonferenz, auf die Chinesen. Und dann ist die Aufgabe woanders und niemand erledigt sie. Es geht darum, selber anzupacken. Und das geht auf der kommunalen Ebene durchaus. Wir haben zum Glück in Deutschland starke Kommunen, garantierte Selbstverwaltung – und dadurch lassen sich Entscheidungen zugunsten des Klimas treffen. Es lassen sich aber auch Entscheidungen zuungunsten des Klimas treffen. Zum Beispiel ausufernde Einfamilienhausgebiete am Stadtrand. Für mich war deswegen die wichtigste Devise: Alle Entscheidungen immer zugunsten des Klimas.
Was haben Sie im Detail gemacht?
Wir sind vorausgegangen, wo immer das ging. Wir waren die erste Stadt in Deutschland mit einer Carsharing-Satzung für öffentliche Straßen. Wir waren die ersten, die eine allgemeine Solardachpflicht auf Neubauten beschlossen haben. Wir sind die einzige Stadt, die ein legales Netz für schnelle Pedelecs ausgewiesen hat. Ich bin der einzige Oberbürgermeister, der Baugebote einsetzt, um Neubaugebiete im Grünen unnötig zu machen. Wir werden 2022 die erste Stadt sein, die den Wegwerfwahn mit einer kommunalen Verpackungssteuer stoppt. Und als erste Stadt erhöhen wir die Anwohnerparkgebühr von bisher bundesweit 30 Euro im Jahr auf 120 Euro mit einem Aufpreis von 50 Prozent für große Fahrzeuge.
Klingt sicher für manche nach Obrigkeitsstaat?
Nein, das Bewusstsein bestimmt das Sein. Wir haben immer in der Bürgerschaft für den Klimaschutz geworben und zum Mitmachen eingeladen. Ich stand 2007 einen Tag auf dem Marktplatz und habe im Tausch für eine Glühbirne eine kostenlose Energiesparlampe ausgegeben. Es kamen fast 1.000 Leute!
Was sagt uns diese Geschichte?
Machen heißt, mit den Leuten gemeinsam etwas machen, Angebote machen. Im Schwäbischen heißt es, auch an den Sparwillen zu appellieren.
Das sind doch schlimme Schwabenklischees.
Es gibt Klischees, die stimmen. Wir sparen CO2 wie Geld, Hauptsache Sparen.
Ein Vorurteil lautet, dass Palmer eine One-Man-Show sei.
Das ist nun in der Tat ein Vorurteil. Ich kann auch als Oberbürgermeister nicht durchregieren, sondern muss versuchen, Mehrheiten zu finden, im Rat und in der Bevölkerung. Wir haben sieben Fraktionen im Rat und trotzdem fallen 90 Prozent der Entscheidungen ohne Gegenstimme.
Was waren zentrale Entscheidungen?
Nehmen wir als Beispiel die Stromerzeugung unserer Stadtwerke. Wir haben 2007 als eine der ersten Kommunen die Versorgung der Stadtverwaltung auf Ökostrom umgestellt und ein lokales Grünstromprodukt auf den Markt gebracht. Das lief ganz gut an. Aber dann kam der Fukushima-Moment 2011.
Der Supergau in Japan als Folge einer Flutwelle.
Das war eine Situation, in der man sehen konnte, dass es vorteilhaft ist, wenn man vorausgeht. Denn da wollten plötzlich alle grünen Strom, und hätten die Stadtwerke nicht gut im Markt eingeführte Produkte gehabt, dann wären alle zu EWS oder anderen Ökostromanbietern gewechselt. Aber so hatten wir einen massiven Zuwachs. 2011 betrug der Anteil erneuerbarer Energien am Portfolio der Stadtwerke drei Prozent, 2020 deckten wir 60 Prozent des Gesamtumsatzes aus eigenen Versorgungsanlagen mit erneuerbarer Energie. Das war ein 200-Millionen-Euro-Investitionsprogramm, im Wesentlichen in Windkraft und Solaranlagen. Mittlerweile verdienen die Stadtwerke damit mehr als mit dem Netzbetrieb. So haben wir in 15 Jahren die low hanging fruit weitgehend abgearbeitet.
Der Trick besteht also darin, nicht Weltrettung zu beschwören, sondern ein gemeinsames Interesse der Stadtgesellschaft herzustellen und das Gefühl, von der Veränderung zu profitieren. Richtig?
Absolut. Ich habe sehr schnell gemerkt, dass meine anfänglichen Versuche, das pathetisch aufzuladen, eher negative Reaktionen erzeugt haben. Wohingegen alles, was pragmatisch, klar, zupackend und einleuchtend gewesen ist, sehr viel Zuspruch gefunden hat.
Für Pathos sind Sie nun auch nicht bekannt.
Naja, vielleicht liegt es auch daran, dass ich nicht gut bin mit Pathos, aber das grundsätzliche Problem ist doch: Wenn man über die Notwendigkeit von Klimaschutz und Klimaschutzpolitik spricht, spricht man fast automatisch trivialpädagogisch. Und es ist zwar schön, sich einzureden, dass man jetzt selber einen entscheidenden Beitrag zur Rettung des Weltklimas leistet, aber bei genauerer Überlegung kommt man dann ganz schnell an die Endlichkeit des eigenen Einflussbereichs und kann dann verzweifeln, weil es ja eigentlich eben doch die Chinesen sind. Deshalb ist das Beste pragmatisches Herangehen an Aufgaben, die sich ohnehin stellen und bei denen man auch Vorteile für das eigene Gemeinwesen gut begründen kann.
Gesetzt den Fall, nur durch altruistisches Handeln ließe sich der Planet retten?
Dann hätten wir überhaupt keine Chance. Ich glaube aber nicht, dass diese Ausgangsvoraussetzung zutrifft und wir darauf angewiesen sind, alle zu Eremiten oder zu Mutter Teresa zu werden.
»Viele kennen vor allem mein mediales Zerrbild. Wer nicht zusammenführt, kann eine Stadt nicht führen. Klimaschutz gibt es nur als Gemeinschaftsaufgabe.«
Boris Palmer
Sondern?
Ich glaube, dass egoistisches Handeln oder zumindest Handeln im Sinne des Eigeninteresses einer begrenzten Gemeinschaft wie einer Kommune, letztlich in der Lage sein kann, das Problem zu lösen. Überall da, wo Verhaltensänderung die Voraussetzung ist, kommt man nur sehr langsam voran. Und da, wo man schnell vorankommen kann, hat man in der Regel irgendwelche Game Changer, die eben nicht Verhaltensweisen sind. Es ist praktisch unmöglich, eine ganze Stadt mit 90.000 Leuten umzupolen und zu sagen: So, Leute, ab morgen fahren wir nicht mehr Auto. Möglich ist es hingegen, die ganze Stadt umzupolen, in dem man sagt: So, ab morgen nutzen wir alle erneuerbaren Strom oder erneuerbare Wärme zum gleichen Preis wie die alte fossile Energie. Das kann administrativ durchgesetzt werden. So wollen wir in Tübingen große Hebel umlegen, wie die ganze Stadt mit erneuerbarer Fernwärme zu versorgen und Hauseigentümer zu verpflichten, die auch abzunehmen. Das ist logisch, denn wenn wir klimaneutral werden wollen, kann ich den Leuten nicht mehr erlauben, neue Ölheizungen einzubauen, das wäre keine konsistente Politik.
Das geht?
Ja, das ist rechtlich schon heute möglich. Das ist ein richtig großer Hebel und erfordert nicht viel Verhaltensänderung. Ich muss weder die Heizung runterdrehen noch die Wohnung verkleinern. Aber ich produziere damit beim Heizen keinen CO2-Ausstoß mehr. Diese großen, eher technologisch getriebenen Transformationen sind die eigentlichen Chancen.
Aber sie erfordern natürlich eine Ernsthaftigkeit der politischen Akteure, das Problem wirklich so zu adressieren, wie es angemessen ist, und eine Bereitschaft der Leute, das mitzumachen.
Eben. Man kommt nicht um einen vernünftigen Begründungszusammenhang für schwerwiegende Eingriffe in die Ausübung von Eigentumsrechten oder für kostspielige Investitionen herum. Ich mache es konkret: Für einen Anschluss- und Benutzungszwang spricht ein einfaches ökonomisches Kalkül. Wenn ich die Leitung durch die Straße durchlege, mit dem warmen Wasser aus der Solaranlage oder der Abwärme-Rückgewinnung aus der Kläranlage, dann sind die Tiefbaukosten der entscheidende Punkt. Wenn jetzt nur jeder Dritte sein Haus anschließt, dann habe ich dreifache Kosten pro Haus und damit ist das Ding tot. Also geht es nur, wenn alle mitmachen.
Also Zwang?
Da, wo die Leitung liegt, muss jeder seine alte Heizung abschalten und kriegt die neue durch ständige Verpflichtung auferlegt.
Das geht wirklich, ohne dass die Leute auf die Barrikaden gehen?
Es geht immer dann, wenn es ökonomisch keine großen Nachteile hat. Sobald es richtig viel Geld kostet, wird es schwierig. Aber wenn man zeigen kann, dass das nicht teurer ist als der Betrieb der alten Haustechnik, dann ist es zumutbar, politisch erklärbar und man kriegt dafür auch Mehrheiten. Ist eben echt blöd, den eigenen Enkeln zu erklären, warum man unbedingt mit dem alten Ölkessel das Klima aufheizen will, wenn doch die Stadtwerke CO2-freie Wärme ins Haus liefern.
Im Herbst wurde die von Ihnen vorgeschlagene Stadtbahn von 58 Prozent Ihrer Mitbürger per Bürgerentscheid abgeschmettert. Sie sollte das Herzstück der Mobilitätswende werden, aber die Mehrheit hatte den Eindruck, die Nachteile für sie überwögen?
Diese Regionalstadtbahn mit ihrer Innenstadtstrecke hätte vor allem einen Nutzen für die Einpendler. Die könnten ihr Auto stehen lassen, während der Tübinger da eher nicht drinsitzen würde, die Baustelle vor der Tür hätte, aber nur indirekten Nutzen: also weniger Autos in der Stadt, weniger Lärm, weniger Unfälle, mehr Platz für anderes, weniger CO2-Emissionen. Da die wenigsten komplette Altruisten sind, ist es nachvollziehbar, dass eine Stadtgesellschaft sich dann eher dagegen entscheidet. Es wäre wahrscheinlich anders ausgegangen, wenn die Kreisbewohner als die eigentlichen Nutzer mit abstimmen könnten.
Eine Stadtbahn wurde nicht nur in Tübingen von den Leuten abgelehnt, sondern auch in Wiesbaden, Aachen, Karlsruhe, Ulm. Wofür steht das?
Mich beschäftigt, dass es in Frankreich anders ist. Die Franzosen haben in den letzten zwei Jahrzehnten in einem Dutzend Städten tolle Stadtbahnprojekte aufgebaut, ohne große Widerstände. Die sind stolz drauf, während es bei uns regelmäßig solche ablehnenden Bürgerentscheide gibt. Ich habe noch keine sichere Erklärung dafür. Meine Vermutung ist, dass Alternativen zum alles dominierenden Auto, schon weil sie erstmal eine Minderheit bedienen, nur schwer Mehrheiten in der Bevölkerung finden. Ein weiterer Aspekt: Bei den unter 40-jährigen Tübingern hatte die Stadtbahn eine Mehrheit, bei den über 60-Jährigen wurde sie mit überwältigender Mehrheit abgelehnt. Wir haben durch die Demografie ein sehr starkes Übergewicht derjenigen, die auch aus nachvollziehbaren Gründen veränderungsskeptisch sind. Das bremst das Tempo von Veränderung.
Wie schätzen Sie die Fortschritte in anderen europäischen Metropolen ein, also Kopenhagen, Barcelona, Paris?
»Nachdem der Tübinger Gemeinderat in Kopenhagen war, habe ich relativ problemlos eine Verhundertfachung des Rad-Investitions-Etats erreicht. Wir bauen gerade vier große Radbrücken. Tübingen wird das Kopenhagen des Südens.«
Boris Palmer
Paris und Kopenhagen habe ich mehrfach besucht, das ist in der Tat ein Beispiel dafür, wie man eine Großstadt so umbauen kann, dass das Rad zum Hauptverkehrsmittel wird. Das war lange unvorstellbar. Ich war schon verblüfft, als ich zum ersten Mal diese gewaltigen Radstaus live erlebt habe, die an großen Kreuzungen einfach normal sind, weil so viele Radfahrer auf der Straße sind, dass eine Ampelphase nicht für alle ausreicht. Dann haben wir uns genau angeguckt, was die wesentlichen Erfolgsfaktoren sind, und ein wichtiges Aha-Erlebnis war: Nachdem der Tübinger Gemeinderat in Kopenhagen war, habe ich relativ problemlos eine Verhundertfachung des Rad-Investitions-Etats erreicht. Als ich angefangen habe, lag er bei 50.000 Euro, aktuell liegt er konstant bei über fünf Millionen. Wir bauen gerade vier große Radbrücken. Tübingen wird das Kopenhagen des Südens.
In Berlin wollte die Grüne Bürgermeisterkandidatin aus der Hauptstadt nicht Kopenhagen oder Paris machen, sondern Bullerbü. Was sagt uns das?
Also, da halte ich mich besser zurück. Aber den Ansatz von Kopenhagen halte ich für richtig, das Rad zum Hauptverkehrsmittel zu machen. Das hat mit Bullerbü nichts zu tun, das ist reiner Pragmatismus. Wenn ich in einer bebauten Stadt mit begrenzter Fläche die Verkehrsströme so abwickeln möchte, dass nicht alle die ganze Zeit im Stau stehen und vielleicht sogar noch Flächen freibekommen möchte für Gastronomie, Kultur, Aufenthalt, Spielplätze, dann kann ich außer Häuser abreißen nicht viel machen. Es sei denn, es gelingt, den Platzbedarf pro Person und Kilometer zu verringern. Das geht mit einer U-Bahn, ist aber extrem teuer. Wenn man keine U-Bahn bauen kann oder will, dann ist das Rad Mittel der Wahl. Mit keinem anderen Verkehrsmittel kann man so hohe Geschwindigkeiten und so wenig Platzbedarf im Stadtverkehr zusammenbringen. Wenn ich als Radfahrer sagen kann, ich bin sicher und schneller als alle anderen, kommt der Rest von ganz allein. Die Fläche dafür muss ich allerdings dem Auto wegnehmen. Dafür brauche ich aber kein Autohasser zu sein, das geht halt nicht anders.
Sie waren für die CDU immer ein Autohasser ...
... oh ja ...
... aber für die Fahrradverbände ein Autostreichler, für die Leute, die Baulücken in der Stadt haben, ein Sozialist, für Linke ein Lobbyist der besserverdienenden Mittelschicht und so weiter. Jeder deutet Sie, wie er es braucht. Was sagt Ihnen das?
Ich eigne mich besonders gut als Feindbild, weil ich die pointierte These schätze. Wenn man dasselbe macht, aber weich formuliert, kriegt man nicht diese Zuschreibungen in der gerade zitierten Form. Mir liegt dieses Verpacken der aus meiner Sicht offenkundigen Tatsachen einfach so schlecht, dass ich da immer wieder voll reinlaufe und sage: So ist das jetzt aber. Und dann finden andere das diktatorisch, autofeindlich, sozialistisch oder was auch immer.
Sie schauen, als ob Sie gleich sagen, dass viele das aber auch gut finden.
Ja genau. Mein Eindruck ist, dass die große Mehrheit der Leute das schätzt. Die sagen auch mal: Da bin ich voll dagegen, was der Palmer jetzt wieder macht, aber insgesamt ist der schon recht. Es gibt auch ein Bedürfnis nach Klarheit, das aber heute nicht mehr so bedient wird, wie früher wahrscheinlich von Strauß und Wehner. Ich denke, dass man es auf diesem Weg hinkriegen kann, weil diejenigen, die mit diesen pauschalen Stigmatisierungen arbeiten, am Ende doch eine relativ kleine Minderheit sind.
Ein weiteres Vorurteil gegen Boris Palmer lautet, dass nur er weiß, wie es geht.
Das stimmt, das liegt aber daran, dass ich meistens weiß, wie's geht. Wenn wir über das Machen in der Kommune reden, dann braucht es einen Macher im Rathaus. Sonst geht da nicht viel. Wir stecken so fest im Morast von Vorschriften, Gewohnheiten und deutschem Sicherheitsdenken, dass man nur vorankommt, wenn man bereit ist, Neues zu wagen, Normen zu vergessen und große Risiken einzugehen. Das traut sich nur jemand, der weiß, wie es geht und wohin es gehen soll.
Was halten Sie von der These, dass wir das ökologische Problem des 21. Jahrhunderts nicht angehen können, solange wir im alten wachstumswirtschaftlichen Modell bleiben? Das ist eben nicht allein auf einer technischen Ebene zu lösen. Zutreffend oder Blödsinn?
Da antworte ich mit einem entschiedenen Jein. Mit einer grenzenlosen Wachstums- und Giergesellschaft lässt sich gar kein Problem mehr lösen, das ist klar. Da steigen die Ansprüche ins Unermessliche und jeden Effizienzvorteil, den ich bekomme, verliere ich wieder durch immer größere Inanspruchnahme der entsprechenden Ressource. Es braucht Selbstbegrenzung. Was man aber nicht erwarten kann, ist Verzicht.
Was ist der Unterschied?
Nicht grenzenlos alles für sich haben zu wollen, bedeutet noch nicht den Verzicht auf Schnitzel oder Heizung. Man könnte sich aber auf ein Selbstverständnis einigen, das bedeutet: Wir wollen schon etwas für uns haben, aber wir sind auch bereit, etwas übrig zu lassen. Auf dieser Grundlage wird der Schwerpunkt dennoch auf der Technologietransformation liegen – und zwar schlicht aus Zeitknappheit. Im Kern geht es darum, den Stecker rauszuziehen aus der alten Energiewirtschaft und in die neue reinzustecken. Aber gleichzeitig muss man aufpassen, dass das, was an dem Stecker hängt, nicht so unermesslich wächst, dass der Transformationseffekt nicht ausreicht.
Wir haben bei der vorherigen Bundesregierung starke Defizite bei einer ernsthaften Klimaschutzpolitik gesehen. Was offenbar nicht verstanden wurde: dass die Qualität des Problemfeldes politisch nicht mit der handelsüblichen Methodik zu bearbeiten ist, also Interessenaushandlung zwischen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Playern.
Da stimme ich nicht zu, weil das eine Singularität dieses Politikfelds behauptet, die ich nicht sehe.
Warum nicht?
So kann man nicht mit den Problemen der Gegenwart umgehen und sagen: Nur die Zukunft ist wichtig. Wenn ich heute an Millionen von hungernden Kindern denke, da kann man nicht sagen, das singuläre Problem ist der Klimaschutz. Aber, ich komme zu meinen Erfahrungen zurück: Politik ist eben die Kunst des Möglichen.
Der Satz wurde gerade von Grünen und Linksliberalen als böser und defaitistischer Merkel-Satz historisiert.
Nein, warten Sie. Was man für möglich hält, hängt einerseits von den eigenen Vorstellungen ab. Wenn ich nicht gar viel verändern will, dann ist fast alles, was möglich wäre, schon zu viel. Aber es hängt zum anderen davon ab, was Wähler mitzumachen bereit sind. Warum Altmaier und Merkel nicht mehr gemacht haben, kann ich nicht beantworten. Aber ich kann sagen, warum ich selber nicht mehr gemacht habe.
»Warum Altmaier und Merkel nicht mehr gemacht haben, kann ich nicht beantworten. Aber ich kann sagen, warum ich selber nicht mehr gemacht habe. Weil ich bei vielen Dingen bis 2018 dachte, dass außer mir keiner mitmacht. Aber dann kamen Fridays for Future und haben ein window of opportunity geschaffen.«
Boris Palmer
Bitte sehr.
Was wir jetzt alles auf den Weg gebracht haben, hätte ich mich bis 2018 nicht getraut: Anschluss- und Benutzungszwang für Fernwärme. Parkgebühren mal locker vervierfachen und Ausdehnung auf das gesamte Stadtgebiet. Eine weitere Erhöhung der Stromproduktion durch Solar- und Windkraftwerke in Tübingen auf 150 Prozent des Jahresbedarfs. 70 Carsharing-Fahrzeuge zusätzlich allein im Jahr 2022, alle elektrisch, das ist eine Verdoppelung der Flotte. Das hätte ich mich vor drei Jahren einfach nicht getraut, dem Rat oder der Öffentlichkeit vorzuschlagen.
Warum nicht?
Weil ich dachte, dass ich damit total auf dem Bauch lande und außer mir keiner mitmacht. Ich hielt es für richtig, aber für jenseits des politisch Möglichen. Dann ist 2019 die Fridays-for-Future-Bewegung gekommen und dass sie so stark geworden ist, hat mich sehr beeindruckt. Und weil ich immer schon dieses Ziel verfolgt habe, habe ich dann gedacht: Jetzt will ich wissen, ob all die, die jetzt begeistert von Fridays sind, wirklich ernst machen wollen mit Klimapolitik.
Einige Städte riefen damals umgehend den Klimanotstand aus, Tübingen nicht.
Das Problem ist: Was passiert denn, wenn man den Notstand ausgerufen hat? Und was passiert mit den sensibilisierten Leuten, wenn es dann mit business as usual weiter geht. Das kann nicht gut gehen. Deshalb habe ich gesagt: Wir brauchen einen anderen Weg.
Nämlich welchen?
Ich dachte, jetzt beschließen wir ein radikales Klimaziel, aber das versehen wir mit einem konkreten Programm, mit dem man dieses Ziel erreichen kann: Tübingen wird klimaneutral bis 2030. Mit diesem Beschlussantrag bin ich in die erste Sitzung des neu konstituierten Gemeinderats marschiert. Hintergrund war, dass Fridays for Future einen Wahlprüfstein an alle Gemeinderatsfraktionen geschickt hatten, in dem sie die fragten, ob sie Klimaneutralität bis 2030 wollen.
Und?
Alle hatten ja angekreuzt, von links bis CDU. Ich war total von den Socken, als ich es gesehen habe. Ich dachte erst, da reden die sich wieder raus, aber nein: Der Beschluss wurde einstimmig gefasst und das dafür ausgearbeitete Klimaprogramm mit nur einer Enthaltung beschlossen. Das alles wäre vor Fridays for Future nicht gegangen. Ich hätte mich nicht getraut und, wenn doch, hätte ich dafür keine Mehrheit bekommen.
Heißt?
Es ist zu einfach, Bundespolitiker, die jetzt abgewählt sind, zu den Verantwortlichen des Problems zu machen. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Interaktion.
Was bedeutet das für die Wirkungskraft von Fridays for Future?
Für diejenigen, die etwas machen wollen, haben Fridays for Future ein window of opportunity geschaffen. Im Moment kann man Klimaschutzpolitik machen mit einer Effektivität und einer Veränderungsgeschwindigkeit, die bis 2018 nicht möglich war.
Die jungen Frauen und auch Männer von Fridays sehen das anders und sind extrem frustriert, weil nichts vorangehe. Manche reden jetzt schon davon, sich zu radikalisieren. Was halten Sie davon?
Ich verstehe das Motiv und kenne den Frust, aber davon halte ich nichts. Die Radikalisierung ist meistens der Weg zur Marginalisierung. Ich verstehe, dass junge Leute nicht sagen, ich habe einen 20-Jahre-Atem, sondern dass sie sofort Erfolg wollen. Aber das ist mit acht Milliarden Menschen und unter demokratischen Bedingungen nicht zu haben. Ich würde ihnen eher raten, ihre eigenen Wirkungsmöglichkeiten zu sehen, weil die sehr groß sind, als jetzt schon die Flinte ins Korn zu werfen und sich zu radikalisieren.
Lassen Sie uns nochmal zum Beginn zurückkommen, als Sie sagten: Wir sind jetzt bei 40 Prozent, mehr war nicht drin. Dann sagt der Journalist gemütlich: Ja, aber das reicht doch nicht. Und dann sagt der Bürgermeister: Ja, aber man muss trotz Frust weitermachen. Wie bleibt man trotz Frust und objektiv unzureichender Ergebnisse dauerhaft handlungsfähig?
Die erste Voraussetzung ist schon die Überzeugung von der Sinnhaftigkeit des Tuns. Ich bin überzeugt, dass es sinnvoll ist, was ich da tue. Das Zweite ist, dass man hin und wieder Erfolgserlebnisse braucht. Wenn man jeden Tag Niederlagen einkassiert, dann ist irgendwann Schluss. Das Dritte ist eine Vorstellung von der Zukunft. Ich frage mich: Was könnte in Zukunft noch gelingen? Wie kriege ich vielleicht morgen das hin, was ich heute nicht hingekriegt habe?
»Ich bin überzeugt, dass es sinnvoll ist, was ich da tue. Ich frage mich: Was könnte in Zukunft noch gelingen? Wie kriege ich vielleicht morgen das hin, was ich heute nicht hingekriegt habe?«
Boris Palmer
Ihre Stadtbahn?
Ja. Es kann eine bessere Gelegenheit geben, deshalb schreibe ich die Stadtbahn nicht komplett ab. Ein letzter Punkt ist gerade in der Kommune extrem wichtig. Es ist fast nie so, dass alle komplett dasselbe wollen. Wenn man das in den Kategorien von Erfolg und Misserfolg misst, dann produziert jede Entscheidung zwangsläufig Verlierer. Und da man als Bürgermeister viele Leute auch persönlich kennt, muss man sich eines klarmachen: Wenn ich immer alles hinkriege, was ich will, dann heißt das für andere Leute, dass die sehr selten kriegen, was sie wollen. Insofern ist es auch hilfreich, wenn ich nicht erfolgreich bin, denn dann hat jemand anderes den Erfolg, und das zahlt sich für die Gemeinschaft aus.
Herr Palmer, so kennen wir Sie ja gar nicht.
Stimmt wahrscheinlich, viele kennen vor allem mein mediales Zerrbild. Wer nicht zusammenführt, kann eine Stadt nicht führen. Klimaschutz gibt es nur als Gemeinschaftsaufgabe.
Interview: PETER UNFRIED und HARALD WELZER
Dieser Beitrag ist in taz FUTURZWEI N°19 erschienen.