: Bester Fliegendreck
Logbuch einer strengen Liebhaberin: „Ins Kino! Münchner Filmtips 1970–1986“ versammelt Frieda Grafes hochkonzentrierte Filmempfehlungen
VON CLAUDIA LENSSEN
Auf den Feuilletonseiten der Süddeutschen Zeitung wurde 1970 eine Kolumne eingeführt, in der Filmkritiker zweimal in der Woche mit knappen Tipps auf das laufende Programm der Münchener Kinos hinweisen konnten. Dieser neue Service, eine Entscheidungshilfe fürs abendliche Ausgehprogramm, war kämpferisch gemeint. Die „Münchner Filmtips“ (damals mit einem p) wiesen auf Interessantes am Rande des gängigen Kinoangebots hin, auf Filmgeschichtliches, Experimentelles, Avantgardistisches, Politisches quer durch Genres, Gattungen und Regiestile.
In Zeiten des ersten „Schulmädchenreports“, neuer Lümmel- und letzter Edgar-Wallace-Filme war das ein Plädoyer. Der Hunger auf Bilder wuchs nicht zuletzt im Zuge der 68er-Bewegung. Man sah Italo-Western, ohne die Vorbilder zu kennen, wartete auf die neuesten europäischen Autorenfilme, hatte aber Mühe, ihre Vorläufer nachzuholen. Damals liefen viele Filme, die heute aus den Kinos verschwunden sind. Man musste wissen, wo, und man brauchte Zeit für die Nachtvorstellungen.
Die in München lebende Filmkritikerin Frieda Grafe gehörte zum Pool der Tippgeber. Das schwierige Miniformat nahm sie als sportliche Herausforderung an. Wie man es von ihren Kritiken und größeren Essays kennt, die in den letzten Jahren in der Schriftenreihe des Berliner Verlags Brinkmann und Bose publiziert wurden, waren ihr die Kolumnen-Dreizeiler für die schiere Inhaltsangabe zu schade. Sie hatte ein Lesepublikum im Auge, das sich von einem sprühenden Gedanken, einem ironischen Aperçu oder historischen Querverweis zum Kinobesuch verführen ließ. „Andeuten und anregen statt vordenken“ war die Devise. Mit subjektiven Geschmacksurteilen hielt sie sich dabei nicht zurück, was den Filmtips einen noch heute nachklingenden Ton vertraulicher Mitteilung gibt, ohne dass die verbindliche Distanz der Expertin in Frage gestellt worden wäre.
Manchmal reichte ihr nur eine Frage, zum Beispiel zu Hitchcocks „Der Fremde im Zug“: „Was tun, wenn geheime Wünsche plötzlich Gestalt annehmen?“ Manchmal zitierte sie Lieblingszeugen wie Jean-Luc Godard, der den Thriller „Blutfeindschaft“ von Joseph L. Mankiewicz in folgender Pointe konzentrierte: „Mankiewicz’ Figuren sind Ehrgeizige, die erst durch Enttäuschungen zum Erfolg gelangen, Liebende, die sich erst scheiden lassen müssen, um zu heiraten.“ Manchmal griff Frieda Grafe mit einer knapp hingeworfenen Beobachtung Tabus an. So bemerkte sie in dem glorifizierten Arbeiterfilm „Kuhle Wampe“ von Brecht/Dudow peinliche Parallelen: „Ein Film, an dem man Zusammenhänge studieren kann mit Strömungen, die immer nur als nazistisch galten. Weigels Lied von den Säften, die im Frühling steigen im Menschen wie in der Natur, das ist reines KdF.“
Das Zeitkolorit der 70er und 80er spiegelt sich in ihren Filmtips. Dem damals aktuellen Underground von Warhol über Brakhage bis zu den deutschen Ausläufern gehört ihre Aufmerksamkeit. Rosa von Praunheims erste Filmpamphlete für die Homosexuellen empfiehlt sie den Lesern ebenso. Und früh ist deutlich, dass Ulrike Ottingers imaginäre Bilderwelt in ihren Augen mehr mit Kino zu tun hat als die feministischen Themenfilme ihrer Zeit, die sie mit Abscheu zur Kenntnisnahme bringt – aus Enttäuschung „entsolidarisiert“. Eine andere beharrliche Absage ereilt Luchino Viscontis „Tod in Venedig“, den sie als Kunst-Schmarrn betrachtet. Gegen Ende der Serie verdichtet sie ihre Filmtips gelegentlich in Rätseln, so wenn sie über Truffauts „Jules und Jim“ schreibt: „Verfließende Zeit als verflossen dargestellt, ein Effekt von schneller Zeitlupe. In der Lupe.“
481 Kolumnen verfasste Frieda Grafe, bis das Format 1986 in den Lokalteil abgeschoben und mit anderen Kultur- und Eventtipps vermischt wurde. Man fragte sie nicht mehr nach Beiträgen und schaffte bald darauf auch die Filmseiten der Wochenendausgaben ab, zu denen sie große Essays beigesteuert hatte. Ihre Art, über Film zu schreiben, hielten die Blattmacher nun für „zu speziell“.
Zu ihrem 60. Geburtstag 1994 holten Fritz Göttler, heute Filmredakteur der Süddeutschen, und Heiner Gassen die „ephemere Kunst“ ihrer Kolumnen aus dem Archiv und veröffentlichten sie als Buch. Diese längst vergriffene Sammlung ist nun neu vorgelegt worden und als elfter Band der von Grafes Witwer Enno Patalas herausgegebenen Schriftenreihe. Aufführungstermine, Kopiendaten und Ähnliches sind gestrichen, die Chronologie der laufenden Kino-Ereignisse und die magischen Kinonamen Isabella, Theatiner, Türkendolch, Eldorado oder Lupe geben den Rhythmus vor. Grafes Work in Progress ist als fortlaufender Text ein Netz aus Beobachtungen und Kommentaren, das in aller Kürze auf die Substanz der besprochenen Filme zielt. Das Register, das Herausgeber und Verleger überarbeitet haben, erleichtert den spielerischen Nutzen, zu dem das Buch verführt. Man findet zum Beispiel leicht die Variationen über einen Film wieder, zu denen Frieda Grafe immer neu ansetzte, wenn er ihr wichtig war und in München zirkulierte.
Fliegendreck nannte der von Grafe geschätzte Artaud das, was auf dem Papier steht. Fritz Göttler umschrieb damit kokett die übliche geringe Wertschätzung von Zeitungsmarginalien. Aber das „Caca de Mouches“ der Münchener Filmtips, wie es Frieda Grafe in Serie hinterließ, erweist sich in der Schriftenreihe neben ihren größeren Texten als elegante Ergänzung, als Brennglas ihrer cineastischen Interessen und Leidenschaften. Auch ohne Parallellektüre zu größeren Grafe-Essays bewahren diese Minitexte ihren Charme. Sie geben eine sehr persönliche Münchener Kinogeschichte wieder, sie sind das Logbuch einer strengen Liebhaberin.
Frieda Grafe: „Ins Kino! Münchner Filmtips 1970–1986“, Schriften 11. Band, Brinkmann und Bose, Berlin 2007, 384 Seiten, 33 €