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Archiv-Artikel

Barbara Bollwahn über ROTKÄPPCHEN Auch ich lebe in einer Parallelgesellschaft

Ich bin nicht integriert: Abends spreche ich Sächsisch und gucke MDR. Meine Blockflöte kann vermitteln – dachte ich

Integration. Uih, uih, ein heißes Eisen. Ein ganz heikles Thema, das Sprengstoff birgt. Wie schwierig es mit der Anpassung an die deutsche Leitkultur ist, weiß ich schon seit 15 Jahren. Seit ich aus dem rückständigen Osten in den fortschrittlichen Westen gekommen bin.

Ich habe alles Erdenkliche getan, um mich zu integrieren. Ich arbeite bei einer westdeutschen Tageszeitung. Ich spreche Hochdeutsch. Ich habe westdeutsche Freunde. Ich trage teure Lederschuhe. Ich sage O-Saft und supi. Ich fahre nur relativ selten in meine sächsische Heimat. Ich bin nicht in der PDS. Ich wähle nicht die NPD.

Doch nach der Arbeit, da geht bei mir die Luzie ab. Da heiße ich nicht mehr Barbara, sondern Bärbel. So wie früher. Da spreche ich breites Sächsisch. Da ernähre ich mich von Leipziger Allerlei, bis es mir zu den Ohren rauskommt. Da gucke ich meinen Heimatsender MDR, bis die Bildröhre glüht. Da lebe ich in einer Parallelgesellschaft. So, jetzt ist es endlich raus.

Nachdem ich jahrelang in verschiedenen Westberliner Stadtteilen gewohnt habe, lebe ich seit einiger Zeit im Osten der Stadt. Dort räume ich heimlich den Wohlstandsmüll meiner westdeutschen Nachbarn weg und träume von der Verleihung einer goldenen Hausnummer. Während ich unter der Woche mit einem unauffälligen Rucksack im Supermarkt einkaufe, benutze ich Samstags auf dem Markt bei mir im Osten einen schönen roten Perlonbeutel.

Wenn mir die Verkäufer aus Sachsen und Brandenburg ihre Waren reichen, schauen wir uns über den Rand meines Perlonbeutels hinweg wissend an. Wir verstehen uns auch ohne Worte. Und das macht es dem Verfassungsschutz so schwer, uns zu beobachten.

Es kann mir aber niemand vorwerfen, dass ich mir keine Mühe gebe, mich zu integrieren und dass ich nicht versuche, den anderen die Angst vor meiner Kultur zu nehmen. Erst neulich wieder habe ich meine Hand ausgestreckt und westdeutsche Freunde zum Essen eingeladen. Quasi ein Tag der offenen Tür bei mir zu Hause.

Ich scheute weder Kosten noch Mühe und servierte Wirsingkohl und Rum. Nach dem Essen schlug ich vor, uns spielerisch anzunähern und holte Jenga heraus. Dieses Spiel, bei dem aus Holzsteinen ein möglichst hoher Turm gebaut wird. Es war anscheinend keine so gute Idee, nach dem 11. September ein Spiel zu spielen, das zwangsläufig damit endet, dass ein mühsam aufgebauter Turm einstürzt.

Als ich verlor, verlangten meine freiheitlich demokratischen Gäste, dass ich zur Strafe ein Lied singe. Ich war immerhin froh, dass ich mich nicht ausziehen sollte. Und obwohl meine Gäste nicht darauf bestanden, dass ich die Nationalhymne singen sollte, hatte ich ein Problem: Ich kann nämlich nicht singen.

Weil ich aber nicht als integrationsunwillig dastehen wollte, machte ich gute Miene zum bösen Spiel und holte das traditionelle Musikinstrument meiner Kindheit hervor. Die Blockflöte. Das bereue ich noch heute.

Die ach so patriotischen Westdeutschen vergaßen ihre gute Erziehung und lachten sich schlapp über die Sonaten und Sonatinen des sächsischen Komponisten Georg Friedrich Händel, die ich ihnen fehlerfrei vortrug. Auch die Urkunden, die ich bei diversen „Leistungsvergleichen der Jungen Talente“ gewonnen habe und ihnen stolz präsentierte, beeindruckten sie wenig.

Doch ich ließ mich durch diese Diskriminierung nicht entmutigen. Ich bot meinen Gästen an, selbst einmal eine Blockflöte in die Hand zu nehmen, um ihnen die Angst davor zu nehmen. Äußerst widerwillig taten sie das. Ohne jegliches Feingefühl malträtierten sie die Instrumente derart laut, dass ich befürchtete, die Nachbarn könnten das SEK rufen. Kaum war der letzte Flötenton verklungen, suchten meine Gäste schnell das Weite. Ich glaube, sie hatten Angst, dass ich meine Flöte auch als Schlaginstrument benutzen könnte.

Seitdem ziehe ich mich mehr und mehr in meine Parallelwelt zurück und spiele Flöte was die Lunge hergibt. Denn die Flötentöne, die bringe ich mir immer noch selbst bei. Ist das klar?

Fragen an die Sächsin? kolumne@taz.de Morgen: Dieter Baumann LAUFEN