BÜRGERINITIATIVEN SIND WIEDER SCHWER IN MODE : Barrikaden für die letzten Soziotope
VON HELMUT HÖGE
Bürger, lasst das Gaffen sein! Springt herunter, reiht euch ein!“, riefen die Studenten 1968 ff. den von Balkonen aus zuschauenden Westberlinern zu. Heute ist es umgekehrt: Die Bürger demonstrieren – und die Studenten sind gerade noch solidarisch. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendwo zwischen Garmisch-Partenkirchen und Flensburg eine neue Bürgerinitiative (kurz: BI) gegründet wird – meistens gegen ein sogenanntes Großprojekt, das ein Großinvestor den Leuten vor die Nase knallen will. Oder sie organisieren sich umgekehrt für den Erhalt eines Gebäudeensembles, das einem Großprojekt weichen soll beziehungsweise für wegen leerer Kassen von Schließung bedrohte Institutionen – wie die Theater in Flensburg, Hagen und Wuppertal, wo laut Medienberichten „Tausende gegen die Schließung protestierten“. Anderswo richtet sich der Widerstand gegen Schwimmbadschließungen (in Essen und Dudweiler) oder gegen die Schließung der Hälfte aller Bahnhöfe (etwa in Sachsen-Anhalt) beziehungsweise gegen ihren Abriss (wie in Stuttgart).
In Berlin möchte eine BI dagegen den Wiederaufbau des Schlosses verhindern. Der dafür Verantwortliche ließ gerade verlauten, dass das Schloss „kein Stuttgart 21“ werden solle. Die FAZ frohlockte, denn „in der letzten Zeit hatte es so ausgesehen, als würde in diesem Land aus allem ein Stuttgart 21 werden“. Der Protest der Stuttgarter bringt es mittlerweile auf 4,2 Millionen Interneteinträge.
Rekordverdächtig ist auch die Gründung von gleich 36 Bürgerinitiativen, die sich gegen die An-und-Abflug-Routen des im Bau befindlichen Berliner Großflughafens wehren. Zuvor sorgte bereits der Widerstand der Bürger gegen die Landebahnerweiterungen in Frankfurt und im Alten Land bei Hamburg für Schlagzeilen. In der Lausitz sind es drei komplette Dörfer, die sich gegen ihre geplante Abbaggerung durch den Braunkohlekonzern Vattenfall wehren. In Lüchow-Dannenberg kämpft die BI seit über 30 Jahren gegen das dortige Atommülllager. In Oberammergau und Garmisch-Partenkirchen wehrt man sich gegen die Baupläne für die Winterolympiade 2018. Im Schwarzwald formiert sich der Widerstand gegen ein gigantisches Pumpspeicherwerk am Schluchsee. Und in der Lüneburger Heide gegen einen geplanten Megaschlachthof bei Celle.
Die vielen Bürgerinitiativen, die sich gegen Windkraftanlagen wehren, kann man schon nicht mehr zählen. Etliche Schriftsteller inspirierte ihr Widerstand – Stichwort „Ökoterror“ – inzwischen zu Regionalkrimis. 291-mal berichtete die taz allein in diesem Jahr über die Proteste von Bürgerinitiativen (wobei sie die gegen Windkraftanlagen sogar noch geflissentlich ignorierte).
Als jetzt die Berliner Zeitung „Montagsdemos im Paradies“ titelte, wunderte sie sich dennoch: In dem Artikel ging es um den Widerstand der Bürger gegen „das von Großprojekten heimgesuchte beschauliche Lichtenrade“. Selbst als Ortskundiger hätte man dort kein Protestpotenzial vermutet. In der zum Bezirk Tempelhof-Schöneberg gehörenden Siedlung am südlichen Rand der Stadt sollen die Bundesstraße 96 und die S-Bahnstrecke ausgebaut werden, und ein Großinvestor will dort ein Stadtteilzentrum mit 30 Geschäften und 300 Parkplätzen mitten in die kopfsteingepflasterte Idylle klatschen. Harald Huth, der Investor, errichtete bereits große Einkaufszentren in Steglitz und Neukölln und droht außerdem damit, das allergrößte am Leipziger Platz zu errichten. In Lichtenrade will er eine denkmalgeschützte Mälzerei in sein Stadtteilzentrum integrieren. Wie das gegebenenfalls aussieht, hat sein Kollege Reinhard Müller bereits kurz nach der Wende in Nauen vorgemacht: Es sieht abscheulich aus!
Der Architekt Müller ist auch ein sogenannter Großinvestor: Er plant rund um den Schöneberger Gasometer eine Privatuniversität mit Hotel, eigenem Autobahnzubringer und 1.700 Parkplätzen. Auch dort versucht eine BI, dieses „Wahnsinnsprojekt“ zu verhindern. Unterstützung finden Müller und Huth beim Berliner CDU-Generalsekretär und Baustadtrat von Tempelhof-Steglitz, Bernd Krömer, mit dem laut der Bürgerinitiative Marienfelde, die gegen „Mega-Spielhallen“ und weitere „Mega-Einkaufszentren“ in Alt-Tempelhof kämpft, „nicht gut Kirschen essen“ ist.
Hermann Gremliza hat kürzlich über die bundesweiten, jedoch stets lokal fokussierten Bürgerbewegungen geurteilt: „Ohne Liebe zur Heimat kein Holocaust.“ Nun gilt die Treue der Bürger jedoch nicht mehr dem Reich, sondern dem Rest eines Soziotops, dem man sich, der Globalisierung trotzend, noch zugehörig fühlt. „Die Heimat ist ein reines Umweltproblem“, so sagte es der Stichlingsforscher Jakob von Uexküll.