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Archiv-Artikel

BETTINA GAUS über FERNSEHEN Nur mal kurz reinschauen …

28 Stunden „Gilmore Girls“ – da waren auch meine Grenzen überschritten. Ein Suchtbekenntnis

Man weiß nie, wo die eigenen Grenzen liegen, solange man nicht an sie gestoßen ist. Ich habe meine Grenzen überschritten. 16 Folgen der US-Serie „Gilmore Girls“ innerhalb von 28 Stunden gehen an niemandem spurlos vorüber. Während der zehnten Folge beginnen die Kopfschmerzen, bei der zwölften stellt sich leichte Übelkeit ein. Egal. Meine Gesundheit kümmert mich nicht. Meine sozialen Kontakte sind mir gleichgültig. Ich will niemanden treffen. Ich will nur eines: weitergucken.

Es hatte harmlos angefangen, wie bei allen Suchtkrankheiten. „Lass uns doch mal kurz reinschauen“, sagte die Tochter am frühen Abend. Das war ein heimtückischer Vorschlag. Sie wusste, was sie tat. Schließlich orientiert sie sich bei ihrer Lebensplanung schon länger an den Sendeterminen der Serie auf Vox, wo inzwischen die fünfte Staffel läuft. Ich hätte also auch wissen müssen, was ich tat, als ich ihr die sechs DVDs der ersten Staffel schenkte.

Wir unterbrachen den Marathon nachts um drei, für einige kurze Stunden. Um beim Frühstück – bei einem ungewöhnlich frühen Frühstück – den Fernseher wieder anzuschalten. Warum setzen gerade die „Gilmore Girls“, also die sehr junge, alleinerziehende Mutter Lorelai und ihre heranwachsende Tochter Rory und ihr Freundeskreis in der Kleinstadt Stars Hollow, alle Kontrollmechanismen und jede Vernunft außer Kraft? Ganz einfach: weil geschickte Cliffhanger in die Serie eingebaut sind. Weil die Charaktere sehr, sehr komisch sind. Und weil sie nicht nur komisch sind.

Es gibt so etwas wie einen landestypischen Humor. Sobald von britischer Ironie und französischem Esprit die Rede ist, weiß jeder, was gemeint ist. Auch unter einem deutschen Lustspiel kann man sich etwas vorstellen, ebenso wie unter einer Tragödie. Von einigen wenigen geglückten Ausnahmen abgesehen, steht für das Publikum sofort und dauerhaft fest, woran es ist: Wenn gelacht werden darf, dann muss auch gelacht werden. Von Anfang bis Ende. Oder eben geweint, je nachdem.

Der US-amerikanische Humor hat der Menschheit grauenvolle Scheußlichkeiten beschert, und dem Erfinder der Lachkonserve soll sein schmähliches Tun bis ans Ende aller Tage nicht verziehen werden. Aber wenn eine US-Serie einmal gut ist, dann ist sie sehr gut. Keine andere Nation schafft es mit ähnlich traumwandlerischer Sicherheit, Weinen und Lachen gleichberechtigt nebeneinander zu stellen.

Jede einzelne Figur der Gilmore-Serie ist überzeichnet, absurd, unrealistisch, verkitscht. Jede hat ihre eigene, ganz persönliche Tragik – und die ist oft besonders komisch. Und manchmal gar nicht. 79 Kundenrezensionen zur DVD sind bis gestern bei Amazon erschienen. Fast alle singen Hymnen auf die Girls. Ein Käufer aber ist wirklich empört: „Wenn man das gesehen hat denkt man, es gäbe keine Kriege, Armut, Krankheiten usw.“ Um die gehe es in der Serie nämlich nicht, sondern nur um so alberne Fragen wie die, ob er sie noch liebt oder nicht.

Recht hat der Mann. Es ist fast wie im wirklichen Leben, in dem derlei Fragen für die meisten Menschen ja auch eine ziemlich große Rolle spielen. Allerdings nehmen die Gilmore Girls ihre Umwelt durchaus zur Kenntnis. Und nichts ist ihnen heilig: Gespottet wird über die Glorifizierung der eigenen Geschichte, über soziale Schranken und Vorurteile, sogar über religiösen Fundamentalismus und über US-Präsident Bush. Aber stets leichtfüßig, beiläufig, unauffällig. Kein Ausrufezeichen. Kein Warnschild: Achtung, politische Satire!

Die Gilmore Girls sind leichte, lockere Unterhaltung. Und außerdem ein sehr überzeugendes Argument für diejenigen, die an die Selbstheilungskräfte der US-Gesellschaft glauben wollen, auch und gerade in politischer Hinsicht. Das kann süchtig machen.

Fotohinweis: BETTINA GAUS FERNSEHEN Fragen zu den Girls? kolumne@taz.de Dienstag: Arno Frank über GESCHÖPFE