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Archiv-Artikel

BETTINA GAUS MACHT Kinder in Fußketten

Israelische Militärgerichte verletzen systematisch die Menschenrechte palästinensischer Kinder

Kinder und Jugendliche, manche nicht älter als zwölf, erscheinen vor Gericht mit Handschellen und Ketten an den Füßen. In vielen Fällen haben sie vor der Verhandlung nie einen Verteidiger zu Gesicht bekommen. Bei nächtlichen Razzien waren sie festgenommen worden, kamen danach in Einzelhaft, ihre Eltern durften sie nicht sehen. Einige Jugendliche berichten von Schlafentzug, von Verhören, in denen ihnen Geständnisse abgepresst worden seien. Andere erzählen von Misshandlungen.

Man kennt solche Berichte, leider. Aus diktatorisch regierten Ländern. Aber die Verantwortlichen für die geschilderten Menschenrechtsverletzungen stehen im Dienst eines Staates, der seit vielen Jahren als einzige Demokratie des Nahen Ostens gilt und der 1991 die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert hat: Israel.

Im Auftrag des britischen Außenministeriums hat eine Juristenkommission im vergangenen Jahr die rechtliche Situation palästinensischer Kinder auf der Westbank im Vergleich zu der von israelischen Kindern untersucht und jetzt die Ergebnisse veröffentlicht. In dem Bericht wird betont, dass es nicht möglich gewesen sei, jede Anschuldigung auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu prüfen. Das, was außer Frage steht, ist schlimm genug.

Israelische Kinder unterstehen zivilen Gerichten, palästinensische Kinder auf der Westbank der Militärgerichtsbarkeit. Die einen können frühestens im Alter von vierzehn zu Gefängnisstrafen verurteilt werden, die anderen mit zwölf. Israelische Kinder müssen spätestens 48 Stunden nach ihrer Festnahme einen Anwalt treffen, palästinensische Kinder erst nach 90 Tagen. Ein Kind in Tel Aviv darf höchstens 40 Tage ohne Anklage festgehalten werden, ein Kind auf der Westbank 188 Tage. Und: Einem 14-jährigen Palästinenser, der einen Stein wirft, drohen bis zu 20 Jahre Gefängnis.

Zu Wahrheit gehört: Von einem solchen Urteil ist in dem Bericht nicht die Rede. Es gibt erste Ansätze von Reformen der Militärgerichtsbarkeit im Hinblick auf Jugendliche, vermutlich nicht zuletzt deshalb, weil Teile der israelischen Öffentlichkeit den Umgang mit Kindern auf der Westbank verurteilen. Ohne die Hilfe israelischer NGOs und auch ohne die Kooperation israelischer Regierungsstellen hätte die britische Delegation ihren Bericht nicht erstellen können.

Grundsätzlich ändert jedoch all das an der Lage wenig. Zwischen 500 und 700 palästinensische Kinder und Jugendliche werden jedes Jahr auf der Westbank festgenommen. Die britischen Juristen zitieren einen Militärstaatsanwalt mit der Bemerkung, jedes palästinensische Kind sei ein „potenzieller Terrorist“. Das dürfte ein schönes Beispiel für eine sich selbst erfüllende Prophezeiung sein.

In Großbritannien – und nicht nur dort – hat der Bericht für Aufsehen gesorgt; die britische Regierung will die Ergebnisse der Untersuchung gegenüber Israel zur Sprache bringen. In deutschen Medien habe ich darüber keinen einzigen eigenständigen Beitrag gefunden, lediglich Spiegel Online hat das Thema im Rahmen eines anderen Artikels gestreift. Nun passiert leider vieles auf der Welt, über das zu wenig oder gar nicht berichtet wird. Aber wie wäre die öffentliche Reaktion in Deutschland, wenn – beispielsweise – US-Militärgerichte afghanische Kinder so behandeln würden, wie palästinensische Kinder auf der Westbank behandelt werden? Schweigen? Wohl kaum.

Die Autorin ist politische Korrespondentin der taz Foto: K. Behling