BETTINA GAUS MACHT : Kassandra in der Falle
Wer vor Atomenergie warnte, behielt recht. Unsympathisch? Die Mahner bleiben unbeliebt
Niemandem auf der Welt vertraue ich so sehr, dass ich die Behauptung glauben würde, gestern seien zwanzig grüne Männchen zu Besuch gekommen. Kaum jemandem misstraue ich so sehr, dass ich seine Angaben zur Uhrzeit bezweifelte. Ein Weltbild orientiert sich nicht nur an angeblichen Fakten, sondern auch an der Einschätzung derer, die Informationen vermitteln. Das ist nicht etwa irrational, sondern hilfreich. Eine Art individuelles Frühwarnsystem. Aber wenn Tatsachen gar nicht mehr zur Kenntnis genommen werden, sondern Leute ausschließlich in den Bereiche der Motivforschung ausweichen, dann werden sachliche Diskussionen ein bisschen schwierig.
„Glückwunsch, dieses Erdbeben wird den vereinigten KKW-Gegnern entscheidend helfen, den schwarz-gelben Beschluss zu den Restlaufzeiten wieder in die Diskussion zu bringen“, schrieb ein CDU-Anhänger aus Nordrhein-Westfalen sofort ahnungsvoll auf Facebook. Mit der Überzeugung, dass Kritiker der Kernenergie vor allem egoistische Interessen durchsetzen wollen, steht er nicht allein. „Tatsächlich bietet der Unfall Atomkraftgegnern den willkommenen Anlass, das ersehnte Aus der Kernenergie durchzusetzen“, meint der Kolumnist Jan Fleischhauer auf Spiegel Online. Die Ereignisse in Japan – ein „willkommener“ Anlass? Liest der Kollege seine Texte eigentlich noch mal durch?
Ein deutscher Informatik-Professor machte mich jetzt auf den Artikel eines Wissenschaftlers am MIT, dem angesehenen Institut für Technologie in Massachusetts, zu der Entwicklung in Fukushima aufmerksam und bat mich darum, ihn weiter zu verbreiten. Er sei überaus informativ.
Hiermit komme ich dem Wunsch – auszugsweise – nach: „Es gab keinen signifikanten Ausstoß von Radioaktivität, und es wird keinen geben. Mit ‚signifikant‘ meine ich einen Grad an Strahlung, der über das hinausgeht, was Sie – sagen wir – auf einem Langstreckenflug bekommen oder wenn Sie ein Glas Bier aus einer Gegend trinken, in der es eine hohe natürliche Strahlung gibt.“ Weiter: „Die Anlage ist jetzt sicher, und sie wird sicher bleiben.“ Und: „Eine sehr geringe Menge Cäsium wurde freigesetzt, außerdem Jod. Falls Sie oben auf dem Schornstein der Anlage gesessen haben, als das geschah, dann sollten Sie jetzt vermutlich das Rauchen aufgeben, um Ihre vorherige Lebenserwartung zurückzugewinnen.“
Wenn man diesen Artikel gelesen hat, dann begreift man wirklich nicht, weshalb sich die Japaner so anstellen.
Offenbar wird es als die dramatischste aller Bedrohungen empfunden, wenn das Weltbild ins Rutschen gerät. Und blödsinnige Texte zu schreiben, voller Zynismus und Aggression: das ist ja eine noch vergleichsweise friedliche Methode der Gegenwehr. Immerhin hat bisher niemand gefordert, deutsche Oppositionspolitiker geteert und gefedert aus dem Land zu jagen.
Kassandra war nie beliebt. In der aktuellen Ausgabe der Zeit – dem Leitmedium jenes Teils der bürgerlichen Gesellschaft, der Atomkraftgegner früher beinahe mit Terroristen gleichsetzte und dennoch stets als linksliberal galt – kommen diejenigen fast gar nicht zu Wort, die seit langem vor einer Katastrophe gewarnt haben. Was müssen sie tun, um wieder mitreden zu dürfen? Hilft es, wenn sie sich dafür entschuldigen, die Situation richtig eingeschätzt zu haben? Sie sitzen in der Falle. Weil mit Rechthaberei verwechselt wird, wenn jemand Recht hat.
■ Die Autorin ist Parlamentskorrespondentin der taz Foto: A. Losier