BERNHARD PÖTTER über KINDER : Zyklus „Panzer mit blauen Knubbeln“
Was ist moderne Kunst? Nach unserem MoMA-Besuch haben wir die Lösung gefunden: Krickelkrakel mit viel Arbeit
Menschen meines Alters denken bei „Peanuts“ nicht sofort an Hilmar Kopper und die Deutsche Bank. Mein Lieblingscartoon von Charlie Brown und seinen Freunden geht so: Lucy erklärt ihrem Bruder Linus, was Kunst ist. Sie befiehlt ihm, einen See zu malen. Dazu eine Blockhütte. Dazu einen Wald. Dazu einen Wasserfall. Dazu einen Sonnenuntergang. Und davor einen röhrenden Hirsch. Dann erklärt Lucy ihrem kleinen Bruder mit geballter Faust: „DAS IST KUNST!“
Natürlich waren auch wir in der MoMA-Ausstellung. Wir nahmen mit Jonas und seiner Kita-Gruppe an einer Kinderführung teil. Das Schöne daran: Wir kamen sofort rein. Hinterher merkten wir aber, dass wir nicht wirklich beim MoMA waren: uns fehlen die vier Stunden Anstehen in der Schlange. Worauf verzichten wir nicht alles für unsere Kinder.
Wir hatten eine tolle Führerin. Wir durften uns vor den Bildern auf den Boden setzen. Nur anfassen durften wir die Bilder nicht. „Warum nicht?“, fragt Elise. „Weil dann der Alarm losgeht“, sagt die Führerin. Gibt es für Sechsjährige einen besseren Grund, ein Bild anzufassen? Und dann sitzen wir vor den Seerosen von Claude Monet. Vor dem „roten Vogel“ von Agnes Martin. Wir sehen Picassos „Knabe, ein Pferd führend“, die „Drei Musikanten“ und die Bronzeziege aus Abfall. Wir sehen das schwarze Quadrat von Ad Reinhart. Ich sehe ein schwarzes Quadrat. Die Kinder sehen schnell, dass das Bild nicht schwarz ist. Und dass es viele verschiedene Felder hat. Sie sehen, was Picasso alles weglässt. Zum Glück sehen sie nicht, dass man auf der riesigen „Bodentorte“ aus Stoff von Claes Oldenburg rumtoben könnte.
„Ist das hier alles Kunst?“, fragt mich Jonas, als wir uns durch die Menschenmassen schieben. „Natürlich“, sage ich. „Warum?“, fragt Jonas. Tjaaaa. Ich sehe den Kollegen Kulturredakteur durch die Ausstellung wandeln. Dirk, warum ist das hier Kunst? Ich bin zu feige, mir diese Blöße zu geben. Also sage ich zu meinem Sohn: „Weil die Künstler etwas gemacht haben, was uns freut oder uns zum Nachdenken bringt. Weil sie viel Zeit und Arbeit damit verbracht haben. Und ich glaube, es ist auch Kunst, weil es alle für Kunst halten. Und dafür viel Geld ausgeben.“
Nach dem MoMA geht die Kulturdebatte bei MaMA weiter. Jonas und Tina sitzen am Küchentisch und malen mit Tuschfarben. Jonas arbeitet an seinem Zyklus „Bagger und Panzer im Einsatz, im Hintergrund Raketen“. Tina malt ein „A“ nach dem nächsten. „Was du da machst, ist keine Kunst, Tina!“, sagt Jonas. „Das ist nur Krickelkrakel.“ Tina ist begeistert: Ein neues Wort: „Krickelkrakel!“ Bahnt sich hier die Diffamierung von abstrakter Kunst an?
Anna macht sich Sorgen um unseren Sohn. Wenn seine Freundinnen malen, kommen dabei immer verwertbare Bilder heraus: Blonde Mädchen auf einer Wiese mit Blumen, blauer Himmel und eine gelbe Sonne. Bei Jonas: Ein Gefängnis. Ein Schiff mit Blaulicht. Vielleicht mal ein Drache. Aber kein Öl auf Leinwand. Alles nur Kugelschreiber. Und huschhusch. Seine Bilder sehen aus, als müsse er frühkindliche Traumatisierungen los werden. Oder schaut er heimlich Kabel 1?
Nach dem MoMA-Besuch ist alles anders. In der Kita planen sie eine Ausstellung mit MoMA-Bildern. Elise hat schon mal angefangen und den „Jungen mit Pferd“ kopiert. Die Panzer bei Jonas haben jetzt einen blauen Knubbel vorn dran. Und mein Sohn hat mir wieder mal etwas voraus. Er ist sich sicher, ob etwas Kunst ist oder Krickelkrakel.
„PAPA, DAS IST KUNST!“ Er hält mir seine neueste Schwarz-in-Braun-Kollektion vor die Nase. „Es ist schön, und es hat viel Arbeit gemacht“, sagt er. Fehlt nur noch die dritte Zutat zu einem Kunstwerk: die allgemeine Wertschätzung. „Willst du es kaufen? Tausend Euro! Oder zehn Cent!“
Zehn Cent ist mir die Musenbegeisterung meines Sohnes allemal wert. Der Künstler selbst ist nicht zufrieden. Die Welt ist noch nicht reif für seine Ideen. Er geht ins Kinderzimmer und sagt zu seiner Schwester: „Tina, du kannst aufhören mit dem Kunst-Malen. Das ist so anstrengend. Wir machen lieber wieder Krickelkrakel.“
Fotohinweis: BERNHARD PÖTTER KINDER Fragen zu Krickelkrakel? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Bollwahn ROTKÄPPCHEN