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Archiv-Artikel

BERNHARD PÖTTER über KINDER Mein Recht auf Zeugnisverweigerung

Am Ende des Schuljahres gibt es keine Noten. Gut so? Für Eltern, die Arbeitszeugnisse lesen können, ist es die Hölle

Moses hatte auch Probleme mit seinem Mathelehrer, da war sich mein Kumpel Jens sicher. Immer, wenn es auf das Ende des Schuljahres hinsteuerte und Jens um seine Vier in Algebra kämpfte, kam er mit seiner ganz eigenen Auslegung des alten Testaments. „Mir geht’s wie Moses“, sagte er dann, „dauernd versuchen sie mir, ungerechte Noten reinzudrücken.“ Dem Führer der Israeliten jedenfalls, da war Jens sicher, hatte das so gestunken, dass er nach dem Auszug aus Ägypten am Berg Sinai extra das achte Gebot in die Steintafeln meißelte: „Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen gegen Deinen Nächsten!“

Immer, wenn es Zeugnisse gab, musste ich an Jens denken. Nun überreicht mir Jonas stolz sein erstes Zeugnis. Darin steht, dass er „sehr rasch lesen gelernt hat“. Aber die Beurteilung zu entziffern, das überlässt er lieber mir. Denn Noten gibt es ja noch nicht. Anna findet das gut. „Da fängt der Druck nicht sofort an“, sagt sie. „Denk mal an all die Kinder, die schon von Anfang an unter Stress stehen. Viele Grundschüler nehmen schon Pillen, weil sie damit nicht zurechtkommen.“ Das ist schlimm. Obwohl die einzigen Pillen, die ich bei Jonas und seinen Freunden gesehen habe, nur aus Zucker bestehen. Aber ich finde Noten auch nicht gut. Zu schematisch. Keine Differenzierung. Methode Holzhammer.

Aber sind diese Beurteilungen besser? Inzwischen habe ich genug Arbeitszeugnisse gelesen und geschrieben, um da misstrauisch zu werden. Denn was heißt es denn, wenn der Vorgesetzte schreibt, jemand habe sich „stets nach Kräften bemüht, die ihm übertragenen Aufgaben zu lösen“? Er ist also eine Flasche und kann nichts. Wenn da steht, jemand „kümmert sich intensiv um die Pflege des Betriebsklimas“, bedeutet das: Achtung, eine Klatschbase, die Intrigen spinnt und Gerüchte streut. Und wehe, jemand zeigt sich „gesellig“ und ist „aufmerksam zu den Kollegen“ – Sie können wetten, dass der Typ dauernd besoffen ist und die Frauen anpöbelt.

Lese ich mit diesem Wissen das Zeugnis meines Sohnes, stellen sich Fragen. „Immer freundschaftlich und hilfsbereit“ – biedert er sich an? „Beteiligt sich an der Erörterung von Aufgabenstellungen“ – das heißt doch: quatscht dauernd dazwischen. „Das Üben in den Arbeitsheften erledigt er eher pflichtbewusst“ – eher pflichtbewusst? Was heißt das denn: Legt er Wert auf Pflicht, Ordnung, Disziplin – oder ist ihm das Üben lästig? Und: Was wäre schlimmer?

Weiter: „Wenn nötig, holt er sich Hilfe vom Tischnachbarn“ – bei uns hätte das geheißen: Schreibt ab, dass es nur so kracht. „Gern rechnet er mit Geld“ – wächst mir da ein Pfennigfuchser heran? Im Kunstunterricht setzen seine Zeichnungen „die Themen auf einfache Weise um“. Er malt also nur Strichmännchen, wo andere schon an Panoramen aus Tusche und Wachsmalkreiden arbeiten? „Kann fremde Texte verständlich vorlesen und entnimmt dabei den Sinn“ – wie ich ihn kenne, legt er ihn auch nicht wieder zurück. Und dann das: „Die Buchstabenlänge beachtet er noch nicht genügend“ – nicht genügend! Das ist eine glatte Sechs, mein Herr Sohn!

Jetzt steht doch ein bisschen Schweiß auf meiner Stirn. So also sieht das wahre Leistungsbild meines Erstgeborenen aus. Was für Medikamente gab es da noch gleich zur Leistungssteigerung? Bekommt er einen Studienplatz? Werde ich ewig für ihn zahlen? Ich soll das Zeugnis auch noch unterschreiben? Das werde ich nicht tun. Ich verlange ein richtiges Zeugnis mit echten Noten, damit ich weiß, woran ich bin. Ich kann die Wahrheit vertragen! Aber nicht diese versteckten Hinweise. Ich bin mit ihm verwandt, da werde ich von meinem Recht auf Zeugnisverweigerung Gebrauch machen.

Jonas findet Noten übrigens auch besser. Als er sich mit seinem Freund Max trifft, reden sie nur über ihr Zeugnis. Aber natürlich nicht über die Beurteilungen. Sondern über die einzigen harten Zahlen, die einen einfachen und klaren Vergleich zulassen: „Ich habe vier Tage gefehlt“, sagt Jonas. „Ätsch, ich sechs!“, ruft Max: „Und einen sogar unentschuldigt.“

Fotohinweis: BERNHARD PÖTTER KINDER Fragen an Moses? kolumne@taz.de Morgen: Bettina Gaus über FERNSEHEN