BERNHARD PÖTTER über KINDER : Das Weltwissen der Vierzigjährigen
Mein Sohn ist sieben Jahre alt und noch nie in einen Bach gefallen. Aber die wichtigen Dinge im Leben hat er begriffen
„Der ist ja voll blöd“, sagt Tina. Sie hat mir mein Buch aus der Hand genommen und schaut sich den Titel an: Ein Junge in kurzen Hosen und T-Shirt balanciert auf einem Rohr über einen See. Ihm folgt sein Hund. So träumt man von unbeschwerten Ferientagen. Meine Tochter hat da andere Vorstellungen. „Wenn der ins Wasser fällt, fressen ihn die Fische.“
Das wäre dann eben auch eine Erfahrung, die man mit sieben Jahren gemacht haben sollte. Donata Elschenbroichs Bestseller „Weltwissen der Siebenjährigen“ jedenfalls beschreibt, was ein Kind kennen sollte. Das Buch stand ein paar Jahre in unserem Regal und schrie mich jeden Tag an: „Lies mich!“ Drumherum all die anderen Bücher, die uns durchs Leben helfen wollen: „Jedes Kind kann schlafen lernen“, „Beim nächsten Mann wird alles anders“, „Sorge dich nicht, lebe!“, „1000 ganz legale Steuertricks“ oder „Calvin and Hobbes: The Essential“.
Dann wurde Jonas sieben Jahre alt. Meine letzte Ausrede, das Buch nicht zu lesen, war futsch. Jetzt also die erste Erfolgskontrolle für unsere Elternschaft. Mit zitternden Händen blätterte ich das Buch auf. Zum Glück steht die Liste bereits am Anfang. Wie bei Gericht: Das Urteil kommt zuerst, alles andere ist nur Begründung. Nach den fünf Seiten atmete ich erleichtert aus: Mein Sohn erreicht das Klassenziel: Er hat schon mal eine Kissenschlacht gemacht, mir beim Rasieren zugeschaut (Bartträger sind hier deutlich benachteiligt) und mit mir gekocht.
Er hat (eigentlich dauernd) einem Erwachsenen verziehen, einen Schneemann gebaut, Feuer gemacht, bei anderen Leuten übernachtet, ein Geheimnis behalten (jedenfalls soweit ich davon erfahren habe). Er will gewinnen und kann verlieren und vermeidet jeden Tag ein paar mal einen Streit – eine Übung, bei der ihm seine Schwester sehr behilflich ist.
Allerdings: Mein Sohn hat auch schwere Defizite. Er hat noch nie Butter gemacht (wir sind ja froh, dass er mit dem Melken der 27 Kühe fertig wird, ehe er in die Schule muss). Er kennt das Märchen vom Holzlöffel nicht (weil unser Geschirr aus Metall ist). Er kann nicht in zwei Sprachen fluchen (aber daran arbeitet gerade sein Freund Ergin). Und er ist noch nie in einen Bach gefallen (ich muss ihn wohl mal schubsen).
Das „Weltwissen der Siebenjährigen“ ist spannende Lektüre. Es schreibt die Erfahrungen nicht vor, sondern sammelt, was viele Leute von Kindern (oder besser: von ihren Eltern) erwarten. Wer das Buch liest, bekommt eine Menge Ideen: Wie man erste chemische Experimente macht, ohne dass die Bude abbrennt. Wie man das Hebelgesetz anhand eines Nussknackers erklärt. Wie „Gott im Kind entsteht“. Dass man „spielzeugfreie Zonen“ einrichten kann.
„Warum gibt es eigentlich so eine Liste nur für Kinder?“, fragt mich abends Anna, als ich mir mein Buch von Tina zurückerobert habe. Ich weiß genau, worauf meine Frau anspielt. Fünf Tage nach Jonas hatte nämlich ich Geburtstag. Und habe ein anderes magisches Datum erreicht.
Was sollte man also mit 40 erlebt haben? Eine kleine subjektive Auswahl: Einen Autounfall. Sex im Wald. Die bevorzugte Partei in der Regierung und in der Opposition. Überleben in Bukarest mit fünf Brocken Rumänisch. Drei Tage Nichtstun. Schiffbruch mit einem Investment. Eine Geburt vor und eine Beerdigung nach der jeweils eigenen. Was sollte man wissen? Wie man genießbare Spaghetti kocht. Dass es häufiger „irgendwie in Ordnung“ gibt als „richtig“ oder „falsch“. Und dass Kinder abends im Bett irgendwann die Klappe halten sollen.
„Oooochch“, mit einem verzweifelten Seufzer drehen Jonas und Tina in ihren Betten gleichzeitig die Augen zum Himmel. Es ist kurz nach neun. Ich weiß auch nicht, wie die Streifen in die Zahnpasta kommen. Aber jetzt wird geschlafen! „Papa, du verstehst gar nichts!“
„Weltwissen“-Autorin Donata Elschenbroich muss jetzt sehr stark sein. Denn egal, was wir uns wünschen. Alle Sieben- und Vierjährigen besitzen ein Weltwissen von geradezu sokratischer Erkenntnistiefe: Mama und Papa haben auch keine Ahnung.
Fotohinweis: BERNHARD PÖTTER KINDER Fragen zum Wissen? kolumne@taz.de Morgen: Josef Winkler in der ZEITSCHLEIFE