BERNHARD PÖTTER über KINDER : Die schonungslose Wahrheit
Schluss mit kindisch (III): Warum es sich objektiv lohnt, Nachwuchs in die Welt zu setzen
2.17 Uhr. Die Party trieb ihrem Höhepunkt entgegen. Mittelschwer angeschickert, hängte sich unsere kinderlose Freundin Julia an meinen Hals. „Du schreibst doch immer diese Kindergeschichten“, schrie sie in mein Ohr, um die Musik zu übertönen. „Und jetzt, wo du damit aufhörst, kannste mir mal einen Rat geben? Frank und ich überlegen auch, ob wir Kinder haben sollen. Aber uns fällt einfach nicht ein, warum.“
Sie hatte Recht. „Kinder anschaffen“ steht nicht auf der Focus-Liste der 100 besten Investments. „Das müsst ihr selbst wissen“, konnte ich nicht sagen, denn sie wussten es ja gerade nicht. Ehe man sich einen Kühlschrank kauft, wälzt man test-Hefte. Bevor man ins Auto steigt, muss man eine Fahrprüfung bestehen. Für jeden Brötchenverkäufer gibt es eine Probezeit. Kinder dagegen tauchen einfach irgendwann auf. Seit der eigene Nachwuchs nicht mehr auf dem Feld hilft und uns im Alter mit Brei füttert, gibt es für die Gründung einer Familie keine objektiven Gründe mehr.
Das ist natürlich Quatsch.
Am nächsten Tag spülte ich die Teller der Party. Dabei fielen mir jede Menge Gründe ein, die sogar Julia und Frank zu überzeugten Zeugern machen würden. Hier ist, nach fast fünf Jahren Kinderkolumne, die Liste: Dafür lohnt es sich, Kinder in die Welt zu setzen:
Sie haben immer eine Ausrede. Zu spät? Termin verschlampt? Geschenk vergessen? „Das Fieber! Und dann die Kotzerei!“ Zieht bei Kinderlosen (weil ahnungslos) und bei Eltern (benutzen die gleiche Ausrede). Sie können über jeden Dresscode lachen. Fettfinger am Kragen? Milchflecken auf dem Kleid? Irgendwann ist es egal, wenn die Leute in der U-Bahn von Ihnen abrücken. Sie können mit Ihren Nachbarn über die Hundebesitzer schimpfen, die ihre Köter alles voll kacken lassen. Und mit den Hundebesitzern über die spießigen Nachbarn, die sich über Hunde- und Kinderlärm aufregen. Sie sind sofort ihre Schlafstörungen los. Sonst überleben Sie das hier sowieso nicht. Sie können die albernsten Modelleisenbahnen kaufen und die lächerlichsten Drachen steigen lassen. Alle finden das toll. Niemand merkt, dass Sie Ihren eigenen Spieltrieb bedienen. Sie müssen auf Partys nicht über die Steuerkonzepte der großen Koalition reden. Sie kommen sicher durch die schlimmsten Ghettos. Mit einem Kinderwagen pöbelt Sie keiner an. Türkische Kids helfen Ihnen die U-Bahn-Stufen hoch. Sie können ungeniert Ihre autoritäre Seite ausleben. „Noch drei Minuten, dann ab ins Bett“ ist noch einer der netteren Befehle. Dann folgt: „… weil ich dein Vater bin! Und jetzt ist Ruhe!“ Sie leben jeden Tag im Praxistest. Bin ich noch fit genug für die Welt da draußen? Weiß ich, warum Jogurt weiß ist? Was heißt „wässriger Durchfall“ auf Französisch? Sie erleben ehrliche und unbedingte Liebe. Nicht unbedingt immer von Ihrem Partner. Aber von denen, die sich (und gegen die Sie sich) nicht wehren können. Ihr Sohn, Ihre Tochter, liebt Sie. Einfach so. Immer. Selbst wenn Sie Ihren Müll nicht trennen. Sie müssen sich nie mehr anstellen: Ob Reichstagskuppel oder Check-In am Flughafen: Mit Kindern gelten Sie als behindert und dürfen vordrängeln. Sind Sie von Beruf Schmuggler? Packen Sie die Zigaretten unter die Kindersitze. Kein Zöllner wird schreiende Kinder kontrollieren. Sie merken, welche Männer echte Kerle sind. Und wer ein Weichei ist, das Angst vor stinkenden Windeln oder einer Stunde allein mit dem Baby hat. Sie erfahren ein alles überschwemmendes Glücksgefühl, wenn Ihr fieberndes Kind in Ihrer Halsbeuge einschläft – und anschließend im Bett weiterschnarcht.
Die Teller waren gespült. Die Liste war fertig. Fast. Eines hatte ich vergessen, merkte ich bald: Kinder sorgen dafür, dass uns jemand schonungslos die Wahrheit ins Gesicht sagt. Am nächsten Morgen sah mich Jonas beim Abmarsch zur Kita kritisch an: „Weißt du was, Papa? Mit dem Fahrradhelm auf dem Kopf siehst du aber ganz schön scheiße aus.“
Der Countdown läuft. Nächste Folge: Schluss mit kindisch (II): So basteln Sie sich Ihre eigene Kinderkolumne
Warum ist Jogurt weiß? kolumne@taz.de Morgen: Bettina Gaus über FERNSEHEN