BERLIN-MITTE WIRD AUCH IMMER LANGWEILIGER: ALLE GUCKEN SO AUFFORDERND : Falsche Komplimente oder Der Anfang der Verwahrlosung
VON LAURA EWERT
Was in den letzten Wochen an Weihnachten erinnerte, war dieses dezente schlechte Gewissen, das immer vor dem Jahreswechsel eintritt, ohne dass man den Grund dafür kennt. Vielleicht eine Art Phantomschmerz einer ungetauften Protestantentochter. Als Übersprungshandlung pausierte man mit dem Trinken. Als jemand sagte, das gehöre zur Sucht dazu, gab man das nach 13 Tagen auch auf, nur um sich selbst zu beweisen, dass man sicher nicht süchtig ist. Am Morgen des Heiligen Abends gab es somit Kopfschmerzen. Vielleicht war das aber auch alles nur so gekommen, weil man das Ausgehen nicht mehr mochte.
Am Anfang hasste man ja Mitte, weil es dazugehörte. Zum guten Ton. Aber je länger man mitmachte, desto klarer wurden die Abgrenzungslinien. Dieses Vercliqute. Da geht die-Freundin-von mit dem-Sohn-von im Grill Royal essen, und dann ist das das. Nix gegen das Grill Royal. So guten Kartoffelbrei muss man erst mal machen. Aber allein der Berghain-Schal über der Küche war einem schon unangenehm. Oder wie die Garderobendame sagt, dass sie den Mantel, ach was, den ganzen Style toll finde, und man fühlte sich schlecht ob des falschen Kompliments. Das große Problem war ja die Mittelmäßigkeit in Mitte. Dass Modedesigner verhandelt wurden, weil sie gut Cremant trinken konnten.
Wenn man das alles einmal verstanden hatte und selber unter der eigenen Mittelmäßigkeit litt wie jeder vernünftige Mensch dann wurde all das noch ermüdender.
Die jungen Laienschauspieler, die im Ballhaus Ost am Heiligen Abend zu jeder vollen Stunde die Weihnachtsgeschichte aufführten, kicherten und waren schlecht frisiert. Der Engel trug eine wunderschöne weiße Bomberjacke, und der Begleiter versicherte, die Aufführenden kenne er noch von früher aus dem Kiez. Vermutlich murmelte einer der Hirten deswegen etwas von „Scheißkapitalismus“, als Maria und Josef für ihre Nacht im Stall denselben Preis zahlen mussten wie für ein reguläres Zimmer. Das war sehr nostalgisch.
Jemand mit sehr vollen Händen sagte, Weihnachten sei vor allem das Fest des Schleppens. Später traf man einen Drehbuchautor, der aus der DDR übrig geblieben war. Da müsse man mal was drüber schreiben, sagte er, über das Finanzierungssystem beim Fernsehen und wie kaputt das sei. Man ahnte es ja schon: Primetime oder Mitte. Auf dem Weg nach Hause sagte man: „Oh, die gleiche Jacke habe ich auch. Die ist super. Von Lidl, ne?“ Und der Drehbuchautor murmelte.
Jedenfalls fand man derzeit alles, was mit Mitte zu tun hatte, doof. Auf den Partybildern des Flamingos hatten die Menschen Kunstblut im Gesicht und Glitzer im Hirn, das Personal war unhöflicher als jeder U-Bahn-Schläger. Und im King Size guckten alle so auffordernd. Man konnte das ja später alles ablesen. Die Relevanzentstehung. So wie bei Facebook: X ist mit Y befreundet, nachdem sie gemeinsam Party soundso besuchten. Fotos wurden gepostet, Artikel erschienen, Netze wurden sichtbar.
Es war alles ganz schön im Randgebiet. Der Nagellack bröckelte vom Abwaschen, und man hatte vergessen, Kaugummis zu kaufen für den nächsten Kuss-links-rechts-Abend. Der Anfang der Verwahrlosung. Zumindest war mit den Feiertagen die Erkenntnis da: Weihnachten wird immer weniger dramatisch.