BARBARA DRIBBUSCH über GERÜCHTE : Es geht um die Jungs, Dummköpfinnen!
Feministinnen haben eine neue Aufgabe entdeckt: Jungsförderung. Mädchen kriegen ja alles, weil sie Mädchen sind
Elternsprechtag in der Schule! Es ist ein bisschen wie beim Arzt. Man wartet vor dem Klassenzimmer, um mit einem Lehrer unter vier Augen sprechen zu können. Hier werden Diagnosen gestellt, Menschenbilder erschüttert. Und Weltbilder umgekrempelt. So auch am vergangenen Dienstag, als ich Dörthe traf.
„Wir haben jahrelang falsch gelegen“, flüstert mir Dörthe zu, als wir in der Schlange auf ein Gespräch mit Lehrer S. warten, „dieses ganze Gerede über Mädchenförderung! Die Jungs sind es doch, die heute benachteiligt sind. Wir müssen umdenken!“
„Ausgerechnet Dörthe!“, schießt es mir durch den Kopf. Sie, die früher jede Theorie über die Benachteiligung der Frau auch noch nach dem dritten Glas Chianti präzise herunterbeten konnte. Die begründen konnte, warum eben am Ende doch immer die Männer auf Chefsesseln landen, während die Frauen an Heim und Herd versacken. Dörthes Theorie konnte allerdings nicht verhindern, dass ihr Sohn Raoul in der Schule abschifft, während Tochter Julia nur Einsen und Zweien nach Hause bringt.
„Meinst du nicht, du gehst doch ein bisschen zu sehr von euch aus?“, frage ich mit gedämpfter Stimme, „in der Pubertät haben doch alle Jungs Probleme in der Schule.“ Ich habe das vage Gefühl, mich auf einen ziemlichen Gemeinplatz zuzubewegen. Doch Dörthe hat gleich ein paar Zahlen parat. „Das kannst du doch in den Schulen sehen, dass es abwärts geht mit den Jungs“, sagt sie, „in Berlin haben wir in den Oberstufen jetzt fast 60 Prozent Mädchen, vor zehn Jahren war das noch ausgeglichener.“ Ich finde, sie klingt jetzt fast ein bisschen hysterisch. Auch in Indien sind es ja die Mütter von Söhnen, die das patriarchale System stützen, habe ich mal irgendwo gelesen.
„Den Mädchenvorsprung gibt es doch nur in dieser Teenager-Phase“, meine ich, „an den Unis sieht es wieder ganz anders aus.“ „Quatsch“, gibt Dörthe zurück, „auch bei den Hochschulen machen jetzt mehr Frauen als Männer einen Abschluss. Vor ein paar Jahren war das noch umgekehrt.“
„Vielleicht sind die Jungs einfach weniger angepasst“, sage ich, „sie bringen zwar schlechtere Noten mit, aber es ist ihnen wurscht. Sie haben mehr Selbstbewusstsein als die Mädchen, und das zahlt sich später aus.“
Philipp, ein zehnjähriger Junge aus der Nachbarschaft, hat mir sein Weltbild mal erklärt: „Die Lehrer wollen nur, dass wir so werden wie die. Die machen Gehirnwäsche mit uns. Aber ich bin doch kein Schleimer.“ Für Philipp sind die vielen Beschwerden im Mitteilungsheft an die Eltern offenbar ein Zeichen seiner Wildheit. Einerseits.
„Aber die Mädchen werden doch eindeutig von den Lehrern bevorzugt“, sagt Dörthe, „Raoul hat’s mir erzählt. Die Mädchen kriegen von den Lehrern viel mehr Bestätigung. Das ist doch die Sauerei. Wo sollen die Jungs denn ihr Selbstbewusstsein hernehmen? Aus irgendwelchen Rambofilmen oder was?“
Ich muss an meine Kindheit denken. Ich hatte immer das Gefühl, die Jungs haben es besser. Weil die Jungs alles durften, was Spaß macht: toben und fluchen und raufen. Und dabei durften sie auch noch im Freien pinkeln und mussten nicht nach oben rennen aufs Klo.
Doch die Zeiten haben sich vielleicht wirklich geändert: Meine Tochter Charlotte erklärte mir neulich auf meine diesbezügliche Frage, sie sei lieber ein Mädchen: „Weil wir das Gleiche dürfen wie die Jungs – und noch ein paar Sachen mehr.“ „Was denn?“ „Na, shoppen, schminken, Klamotten kaufen.“ Ach so.
„Die Mädchen machen auf Mädchen und kriegen dann alles“, fährt Dörthe fort, „den Jungs fehlen hingegen die positiven Rollenbilder.“
Die Tür des Klassenzimmers geht auf. Ich bin dran und nenne artig meinen Namen. „Die Mutter von Charlotte!“, sagt Lehrer S. ein bisschen ölig, „na, das Mädchen macht mir ja nun gar keine Probleme.“ Dörthe wirft mir einen viel sagenden Blick zu. Es stimmt ja, was mir kürzlich eine Pädagogin erklärte: Mädchen haben oft die besseren Noten. Und sie fühlen sich immer auch ein bisschen schuldig.
Fragen zu Jungs? kolumne@taz.de Morgen: Philipp Maußhardt über KLATSCH