BARBARA BOLLWAHN LEUCHTEN DER MENSCHHEIT : Ulbrichts doppeltes Scheitern
Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Der von Walter Ulbricht im Juni 1961 auf einer Pressekonferenz geäußerte Satz ist längst in die Geschichtsbücher eingegangen. Knapp zwei Monate später ließ er dann doch eine Mauer errichten. In dem im Christoph Links Verlag erschienenen Buch „Ulbrichts Scheitern“ (520 S., 49,90 Euro) heißt es im Untertitel provokant: „Warum der SED-Chef nicht die Absicht hatte, eine Mauer zu errichten, sie aber dennoch bauen ließ“.
Im Vorwort stellt der Direktor der Stiftung Berliner Mauer, Axel Klausmeier, eine naheliegende Frage: „Warum denn noch ein weiteres Buch zur Vorgeschichte des Mauerbaus?“ Die „einschlägige Literatur“ sei „relativ einhellig“ darüber, dass Ulbricht bereits 1952 die Absicht gehabt habe, die Sektorengrenzen schließen zu lassen. Doch „überspitzt“ und „auf die berühmte Pressekonferenz anspielend“, könnte man auch fragen: „Hatte SED-Chef Walter Ulbricht tatsächlich nicht die Absicht, eine Mauer zu errichten?“
Um diese Frage zu beantworten, geht der Autor Michael Kubina, Jahrgang 1958, Studium der Theologie und Ost- und Südosteuropäischen Geschichte in Ost-Berlin, Politikwissenschaft und Slawistik in West-Berlin, zunächst der Frage nach, was Ulbricht ab 1952 genau und warum gefordert hat und welchen Zweck die von ihm beabsichtigte Kontrolle der Grenzen zu West-Berlin erfüllen sollte. Kubina kommt zu dem Schluss, dass Ulbricht und die SED-Führung die Republikflucht zunächst nicht als sonderlich bedrohlich wahrnahmen, sondern in den Flüchtlingen vor allem „Klassenfeinde“ sahen. Von der Überlegenheit des Sozialismus waren sie fest überzeugt. Erst als die Abwanderung ein bedrohliches Ausmaß annahm, entschied Chruschtschow, das Fluchtproblem durch die Schließung der Sektorengrenze in Berlin zu lösen. Damit war Walter Ulbricht zwei Mal gescheitert: Das für 1961 angekündigte „Überholen“ Westdeutschlands blieb eine Illusion, West-Berlin wurde als „Pfahl im Fleisch der DDR“ konserviert. In der Zusammenfassung nennt der Autor den Bau der Mauer „alternativlos“.
■ Die Autorin ist Schriftstellerin und schreibt für die taz