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Archiv-Artikel

Die Macht des Publikums

Hans-Jürgen Wirth hat eine eindrucksvolle Studie über das Unbewusste in der Politik verfasst. Sie ist durch Fotografien und Reproduktionen aus der Kunstgeschichte herrlich illustriert. Damit erreicht sie eine Anschaulichkeit, die man in der psychoanalytischen Literatur höchst selten findet

von MARTIN ALTMEYER

Die psychoanalytische Sozialpsychologie leidet bis heute unter ihrem „Erbfehler“ (Jürgen Habermas): der Überdehnung von Individualpsychologie zu einer Art Pseudosoziologie. Sobald sie das Behandlungszimmers verlässt, neigt die Psychoanalyse dazu, seelische und soziale Strukturen miteinander kurzzuschließen, am Einzelnen entwickelte Begriffe zu zeitdiagnostischen Kategorien aufzublasen, psychopathologische Kategorien auf die Pathologie von Lebenswelten zu übertragen – vom Wahn zum Massenwahn, von der Fremdenangst zum Genozid, von der narzisstischen Persönlichkeit zum Zeitalter des Narzissmus et cetera. Solche Unternehmen haben ihre Risiken. Wer sich vom Feld der Psychoanalyse aus in das der Gesellschaft oder Politik bewegt, muss nämlich einen Abgrund überspringen, der beide Welten voneinander trennt; entsprechend häufig sind Abstürze in der Geschichte des psychoanalytischen Anwendungsdiskurses.

Der Gießener Psychoanalytiker Hans-Jürgen Wirth ist nicht abgestürzt mit seinem anspruchsvollen Projekt, anhand von ausgewählten Politikerkarrieren und Zeitereignissen das Verhältnis von Narzissmus und Macht zu untersuchen. Vor allem deshalb nicht, weil er durch begriffliche Brückenköpfe von beiden Seiten die Kluft vermindert, die er überspannen muss: Die (soziale) Außenseite des Narzissmus und die (seelische) Innenseite der Macht liegen dicht genug zusammen.

Das Buch ist klar gegliedert und durch aufschlussreiche Fotografien sowie herrlich illustrierende Reproduktionen aus der Kunstgeschichte von einer Anschaulichkeit, die man in der psychoanalytischen Literatur selten findet. Für seine eindrucksvolle Studie, die tief eindringt in die Materie, zugleich aber Abstand zu ihrem Gegenstand wahrt, hat der Autor sich auf Sekundäranalysen von Material beschränkt, das öffentlich zugänglich ist: Selbstaussagen der Beteiligten, Einschätzungen aus ihrer Umgebung, Medienberichte, Bilddokumente. Die Deutungen, die er liefert, verzichten weitgehend auf jene Spekulationslust, die als „wilde Analyse“ zu Recht in Verruf geraten ist. Sie werden in einer Sprache präsentiert, die sich vom psychoanalytischen Jargon angenehm unterscheidet. Lediglich der Untertitel („Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik“) ist schlecht gewählt; er führt in die Irre, weil es gar nicht um Psychopathologie im engeren Sinne geht.

Der inneren Verbindung seiner zentralen Kategorien widmet Wirth ein langes Kapitel, das er den materialen Untersuchungen voranstellt. Der Narzissmus braucht ein (zumindest imaginäres) Publikum: Er hat eine intersubjektive Dimension, die in die Sphäre des Öffentlichen hineinragt. Und die Macht braucht die (zumindest virtuelle) Zustimmung eines Zweiten, der die Wahl hat, diese auch zu verweigern – als soziale Beziehung ragt sie in die Sphäre des Persönlichen hinein. Der Autor richtet den psychoanalytischen Blick also auf einen Schnittbereich, den es nach der Systemtheorie gar nicht geben dürfte, weil dort Subjekt und Politik als voneinander unabhängige Sphären gelten, die füreinander bloße Umwelten sind. Im Fokus steht ein intersystemischer Austausch, bei dem nicht nur Seelisches in die Politik einströmt, sondern auch umgekehrt Politisches die Seele prägt.

Beide, Narzissmus und Macht, sind nicht per se negativ oder krankhaft, auch wenn sie pathologisch entgleisen können. Zudem brauchen sie Reflexion oder Resonanz, sind deshalb keine Systemeigenschaften, sondern Kommunikationsmedien, bei denen es um Größe und Bedeutung, um Wichtigkeit und Anerkennung beim Anderen geht. Ob man sie deshalb als „siamesische Zwillinge“ bezeichnen sollte – wie der Autor es tut –, ist eine andere Frage. Ich würde die Metapher eines Vexierbildes vorziehen, das verschiedene Seiten zeigt, je nachdem wie man die Optik einstellt.

Politikerporträts machen den Hauptteil des Buches aus. Und die Auswahl hat es in sich: Uwe Barschel, Slobodan Milošević, Helmut Kohl. Kein Zufall, dass Wirth sich prototypische Machtpolitiker ausgesucht hat, deren Karrieren auf mehr oder weniger unrühmliche Weise beendet worden sind. Gerade ihr Scheitern hat erst narzisstische Züge enthüllt, die im psychosozialen Arrangement der Macht zuvor gut untergebracht und verborgen geblieben waren. Ihr persönliches Schicksal wird im Kontext der Verhältnisse betrachtet, in denen sie zunächst auf-, dann aber abgestiegen sind. Sie waren angewiesen auf ein bestätigendes Umfeld, das sowohl ihren persönlichen Narzissmus befriedigte als auch ihre politische Macht sicherte. Beides zerfiel, als die äußere Bestätigung ausblieb. Und jedes Mal zeigte sich im Untergang die unheilvolle Kehrseite dieser brisanten Verbindung: ein destruktives und zugleich selbstdestruktives Potenzial, das sowohl dem gekränkten Narzissmus als auch dem befürchteten oder wirklichen Machtverlust innewohnt.

Trotz aller gravierenden Unterschiede ist dieses zerstörerische Moment in allen drei Fallbeispielen unübersehbar. Bei Barschel endete die Karriere bekanntlich im als Mord inszenierten Selbstmord; bei Milošević vor den erniedrigenden Schranken des Den Haager Gerichts; bei Kohl im fatalen Bruch der Verfassung, der seine Mächtigkeit eigentlich retten und ihm am Ende doch seinen ehrenwerten Ruf kosten sollte.

Zwei weitere Kapitel des Buches widmen sich weniger Personen als Ereignissen der Zeitgeschichte. Einmal der 68er-Generation, der sich der Autor selbst zurechnet und der auch der Rezensent angehört; hier werden anhand der Entwicklung der RAF einerseits, der politischen Biografie von Joschka Fischer andererseits die Alternativen mächtiger Selbstinszenierung untersucht. Zum anderen der Renaissance eines politischen Manichäismus, der nach dem 11. September 2001 den unbewussten Zusammenhang von Narzissmus und Macht als interkulturelle Entscheidungsschlacht zwischen Gut und Böse verkleidet. Mehr wird nicht verraten, damit die Lektüre spannend bleibt.

Hans-Jürgen Wirth: „Narzissmus und Macht. Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik“, 340 Seiten, Psychosozial-Verlag, Gießen 2002, 24,90 €