STADTGESPRÄCH : Srebrenica im Friseursalon
WIE SOLL DER 20. JAHRESTAG DES MASSAKERS AN BOSNISCHEN MUSLIMEN BEGANGEN WERDEN?
Das Friseurgeschäft in der Kosevostraße ist Umschlagplatz für Meinungen und Neuigkeiten. Über die Nachricht, der ehemalige Kommandeur von Srebrenica, Naser Oric, der in der Schweiz aufgrund eines Haftbefehls aus Serbien Anfang der Woche festgenommen worden war, werde nach Bosnien und nicht nach Serbien überstellt, freut sich Meho. Als er gerade die Rasierklinge an die Kehle eines Kunden setzt, murmelt er etwas über die „serbischen Halsabschneider, die nicht ruhen könnten, unsere Leute zu verfolgen, nur um von ihren eigenen Missetaten abzulenken“.
Die meisten anderen Kunden und Friseure im Geschäft stimmen zu. „Schon bei Professor Ejub Ganic und bei unserem Kommandeur in Sarajevo, Jovan Divjak, haben sie etwas Ähnliches versucht. Immer wenn die Feierlichkeiten zum Jahrestag von Srebrenica anstehen“, sagt Mirsad, ein Nachbar.
Das muslimische Mitglied im Staatspräsidum, Bakir Izetbegovic, argumentiert ähnlich. Die bosniakische Führung und die Menschen auf der Straße haben in Bezug auf Naser Oric die gleiche Meinung. Munira Subasic, Vertreterin der überlebenden Frauen von Srebrenica, die sich gern in ihrer Limousine von einem Chauffeur durch die Gegend fahren lässt, ist froh, dass ein ordentliches Gericht in Sarajevo die Unschuld von Naser Oric feststellen kann, was ja das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag schon vor Jahren getan hat. „Jetzt braucht man auch nicht mehr über die Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag zu reden.“
Leute wie Izetbegovic, Munira Subasic und andere führende Vertreter des bosniakischen Establishments hatten vor der Entscheidung des Schweizer Gerichts gedroht, aus Protest den 20. Jahrestag in Srebrenica ausfallen zu lassen, sollte Oric nach Serbien ausgeliefert werden. Rechtsanwalt Dennis Gratz, führender Vertreter der nichtnationalistischen Partei Nasa Stranka, die in Sarajevo 10 Prozent der Stimmen errang, sieht diese Position wie viele Leute aus der Zivilgesellschaft als Anmaßung.
Doch das ist jetzt Schnee von gestern. Fast. Marija ist enttäuscht. Die fast 80-jährige Nachbarin sieht in dem Akt der Schweizer Behörden keinen Akt der Gerechtigkeit, auch die Serben hätten Opfer und dürften um sie trauern, sagt sie. Als Serbin, die während des Kriegs in der belagerten Stadt geblieben war, gehört Marija in den Augen der Nachbarn zu den „Guten“. Sie hält die in Belgrad erhobenen Anklagen nicht für fingiert. Anders ihr Mann Jure, ein Katholik, der nicht immer einig mit den bosniakischen Nachbarn ist. „Die sieht zu viel serbisches Fernsehen“, sagt er und grinst.
Die beiden haben wohl viel Gesprächstoff zu Hause, zwinkert Sulejman Bosto, Professor an der Philosophischen Fakultät. „Die offizielle serbische Politik versucht die eigene Rolle im Krieg zu vertuschen.“ Was ihn besonders ärgert, ist der Gebrauch einer quasirechtlichen Rhetorik. „Serbien tut in Bezug auf das Ausland so, als könne es erneut Richter und Polizist auf dem Balkan spielen. Welche Anmaßung. Auf der anderen Seite gibt es im Fall Oric ebenfalls undurchsichtige Interessen. Jenseits solcher zynischen Spiele sollte der Fall Oric vor allem rechtlich beurteilt werden“, sagt Bosto und lässt sich auf dem Friseurstuhl nieder.
ERICH RATHFELDER AUS SARAJEVO