: „Wir brauchen Instrumente statt Waffen“
HAMBURG ODER BASRA Ali Shibly musste vor Saddam Hussein aus dem Irak fliehen und studierte in Mazedonien Architektur . In Hamburg gründete er das erste deutsche Kindermandolinenorchester. Nun lockt ein Job – im Irak
■ 52, stammt aus der irakischen Hafenstadt Basra. Mit 18 floh er ins damalige Jugoslawien und kam 1998 als Staatenloser nach Deutschland. Seit 2007 hat er die deutsche Staatsbürgerschaft. 1999 gründete er in Hamburg die Shibly Band, 2007 das erste deutsche Kindermandolinenorchester.
INTERVIEW PETRA SCHELLEN
taz: Herr Shibly, was bedeutet Ihnen der Oud?
Ali Shibly: Der Oud ist ja ein altes arabisches Saiteninstrument, eine Kurzhals-Laute, die wohl vor 1.000 Jahren erfunden wurde. Aus ihm ist die Laute entstanden, daraus Mandoline und Geige.
Und für Sie?
... ist der Oud ein Teil meines Lebens. Ich kann mir keinen Ali Shibly ohne Oud vorstellen.
Wann hat das angefangen?
Als ich neun war. Mein Onkel ist Komponist, und nachdem ich als Kind versehentlich seinen „heiligen“ Oud angefasst hatte, schenkte er mir einen eigenen.
Ist der Oud schwer zu spielen?
Ja, denn er hat keine Bünde auf dem Instrumentenhals, sodass man den Ton ohne diese „Hilfslinien“ finden muss.
Wie lange haben Sie gebraucht, um ein guter Oud-Spieler zu werden?
Der Oud ist für mich wie eine Sprache. Man kann nie sagen: Jetzt bin ich perfekt. Man kann immer Neues lernen. Um gut auf der Bühne spielen zu können, braucht man drei bis fünf Jahre.
Sind Sie schon in Ihrer Jugend im Irak als Oud-Spieler aufgetreten?
Nein, eher als Gitarrist. Erst nach meiner Flucht nach Mazedonien habe ich intensiv mit Oud begonnen.
Wie kam das?
Ich traf mehrere Profis, die sagten: Wow, Ali, du hast ein Oud? Lass sofort die Gitarre bleiben und spiel Oud! Im einstigen Jugoslawien – dem heutigen Mazedonien – war ich in den 1980er-Jahren der einzige Oud-Spieler.
Warum standen die Mazedonen so auf Oud?
Weil die alten Mazedonier auch Oud spielten. Sie kannten ihn noch aus der Zeit der 500-jährigen Osmanenherrschaft vom 14. bis zum 19. Jahrhundert.
Aber Ihre eigene Band haben Sie erst in Hamburg gegründet.
Ja. Als ich 1998 nach Deutschland zog, traf ich einen arabischen Saxofonspieler. Ich probierte gerade ein Oud in einem Musikladen aus. Der Mann sah mich und sagte: Schon lange suche ich jemanden, der mit mir Oud spielt. Er schlug vor, eine Band zu gründen, die nur eigene Kompositionen aufführt. Nach und nach haben wir weitere Musiker gefunden. Der Name „Shibly Band“ war die Idee meiner Kollegen. Shibly bedeutet Löwenbabys.
Und warum spielt die Shibly-Band orientalischen Jazz?
Dieser Mix soll ein Dialog zwischen der arabischen Welt und dem Westen sein. Das war immer mein Traum.
Aber studiert haben Sie Architektur. War das Ihr Lebensplan?
Nein. Ich wollte Film oder Theater studieren, aber meine Eltern fanden, wir brauchten einen Ingenieur. Architektur für mich ein guter Kompromiss, denn das ist ja auch Kunst.
Sie haben in Mazedonien studiert. Warum?
Ich bin geflohen. Dabei hatte ich ursprünglich gar nicht vor, den Irak zu verlassen. Aber mein Bruder ist 1985 hingerichtet worden, weil er zu Kommilitonen gesagt hatte, das Regime von Saddam Hussein sei eine Diktatur. Er war fünf Jahre im Gefängnis, dann haben sie ihn umgebracht. Ich war auch im Gefängnis.
Warum?
Die Polizei suchte meinen Bruder, um ihn festnehmen, kam zu uns nach Hause und sagte: Wir nehmen Ali mit, und wenn der Bruder kommt, tauschen wir. Ich war 17 Tage im Gefängnis, bevor sie ihn fanden. Was in dieser Zeit passiert ist, kann ich nicht vergessen.
Mögen Sie es erzählen?
Nur ein Beispiel. Sie haben einem 15-jährigen Freund von mir, der etwas gegen Hussein gesagt hatte, jeden Tag einen Finger abgeschnitten. Sie haben mich gezwungen, das anzusehen und immer wieder gefragt: Wo ist dein Bruder? Ich wusste es nicht, aber irgendwann hab ich behauptet, ich wüsste es. Ich dachte, wenn wir durch Basra gehen und ihn suchen, könnte ich fliehen. Ich habe es nicht geschafft. Lange Geschichte.
Und Ihre Mutter?
Als ich wieder draußen war, sagte sie: Du musst den Irak verlassen, wenn du mit dem Gymnasium fertig bist. Es ist zu gefährlich. Damals mussten nach dem Abitur alle zur Armee. Und das einzige Land, wo ich als Iraker ohne Visum hingehen konnte, war das damalige Jugoslawien.
Sie sind als einziges Familienmitglied geflohen.
Ja. Ich habe in Skopje Architektur studiert und 17 Jahre dort gelebt. Aber ich hatte auf die Dauer kein Bleiberecht und bin dann illegal in die EU gekommen. Inzwischen habe ich einen deutschen Pass.
Wollten Sie in Deutschland nicht als Architekt arbeiten?
Doch. Ich habe viele Bewerbungen geschrieben, aber keine Stelle bekommen.
Stattdessen haben Sie in Hamburg das erste Kindermandolinenorchester Deutschlands gegründet.
Das war ein Zufall. Ein Freund fragte, ob ich seinen vier Kindern Mandoline beibringen könnte. Ich habe ja gesagt, schon kam ein zweiter Freund, der hatte drei Kinder ..., da waren es sieben. Ich hab einen Raum gesucht und im Kulturladen in Hamburg-St. Georg gefragt. Sie haben mir den Raum gegeben und den Kurs für alle Kinder geöffnet. Inzwischen kommen 41 Kinder zwischen fünf und 19 Jahren. Sie stammen aus Mexiko, Peru, Marokko, Tunesien, Iran, Rumänien, Polen, Deutschland, Amerika ...
Warum musste es die Mandoline sein?
Interessante Frage. Die Mandoline ist kein Kinderinstrument. Aber es ist ein kleines Instrument, und Kinder können es gut greifen. Und sie lernen schnell: Nach vier Monaten kann jedes Kind spielen und Noten lesen.
Wie bändigen Sie 41 Kinder?
Ich teile sie in Anfänger-, Mittel- und Oberstufengruppe ein. Manchmal wollen die Anfänger länger bleiben, das dürfen sie. Inzwischen sagen die Eltern: Ali, du bist der beste Babysitter! Wir geben die Kinder Samstag und Sonntag von 11 bis 15 Uhr bei dir ab – und gehen einkaufen.
Warum bleiben die Kinder so gern?
Weil hier immer was los ist. Ich bin total verrückt, schneide Grimassen, erzähle Geschichten. Und in der Pause machen die Kinder hier Hausaufgaben. Inzwischen sind wir eine richtige Familie.
Warum unterrichten Sie kostenlos?
Weil es mein Traum ist, Kinder aus vielen Ländern hier zu haben, etwas für die Integration zu tun. Das sollte man auch in den arabischen Ländern tun: Instrumente statt Waffen verteilen.
Wann waren Sie eigentlich zum ersten Mal wieder im Irak?
2007, nach Husseins Tod. Und auch da war es gefährlicher, mit einem Oud herumzulaufen als mit einer Waffe. Denn Musik gilt den Fundamentalisten als Haram, als verboten.
Haben Sie das Verbot geachtet?
Nein. 2007 war ich mit dem Oud in einem Park in Basra, und auf einmal waren da fast 50 Kinder, die den Oud anfassen wollten. Ich sagte, setzt euch, wir singen. Alle Kinder sitzen also um mich rum, und alle haben Angst. Und was singen sie? Die Hymne! Sie haben Angst, was anderes zu singen. Aber sie waren so begeistert, und ich hab gesagt: Gründen wir ein Orchester.
Wie ist die Stimmung im Irak?
Das öffentliche Leben entwickelt sich langsam. Vor ein paar Jahren hat die Musikhochschule in Basra wieder geöffnet. Auch die Philharmonie ist wieder aktiv.
Und was haben Sie empfunden, als Sie nach 26 Jahren erstmals wieder im Irak waren?
Ich habe geweint. Ich habe ja keinen irakischen Pass und brauchte ein Visum! Ich bin Ausländer. Und dann … 40 Prozent meiner Freunde und Bekannten waren inzwischen gestorben.
Durch Gewalt.
Natürlich. Es herrschten acht Jahre Krieg mit Iran. Danach war Krieg gegen Kuwait, dann 13 Jahre Embargo der UN. Das hat die Iraker kaputtgemacht. Es gab kein Essen, und deshalb gibt es heute nur wenig Kultur. Die Leute hatten keine Heizung, keinen Strom, kein Geld und haben alles verkauft, all ihre Bücher.
Haben Sie noch viele Verwandte dort?
Ein Bruder ist vor drei Jahren gestorben, eine Schwester vor vier Jahren. Und die Freunde … Manche haben nur noch ein Auge, manche nur eine Hand. Ich habe mich lange geschämt, mit ihnen über Kultur zu sprechen. Sie hatten andere Sorgen. Jetzt wird es langsam anders.
Und wo ist Ihre Heimat?
Wenn ich dort bin, sage ich, Hamburg ist meine Heimat. Wenn ich hier bin, sage ich: Basra.
Jetzt haben Sie das Angebot, als Architekt in Basra zu arbeiten.
Ja, von einer italienischen Firma. Aber vor ein paar Tagen hat mich auch der hiesige Bundesbetrieb Erziehung und Beratung angerufen, bei dem ich mich beworben hatte. Ich finde es schwer, mich zu entscheiden. Meine Mutter möchte, dass ich nach Basra komme. Aber mein Herz ist hier.