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Archiv-Artikel

Sich verwebende Luftwurzeln

INTERNATIONALE BUCHKUNST „Unter dem Schnee“ ist ein schwäbischpersischirisches Gemeinschaftswerk aus Lyrik und Collage, das hier von einem Juristen gewürdigt wird

Johannes Feest

■ war von 1974 bis 2005 Professor für Strafverfolgung, Strafvollzug und Strafrecht an der Universität Bremen. Der abgedruckte Text ist ein Auszug aus seiner Lesungs-Laudatio

VON JOHANNES FEEST

Normalerweise geht es bei einer Buchvorstellung um eine Person: den Autor oder die Autorin. Bei „Unter dem Schnee“ sind drei Personen am Gelingen des Werks beteiligt. Neben Inge Buck, die Autorin der 28 Gedichte, treten Monica Schefold, eine Künstlerin, die die gleiche Zahl von Collagen beigesteuert hat, und Madjid Mohit, der die Gedichte ins Persische übersetzt hat.

Mohit stammt aus einer iranischen Verlegerfamilie und kam 1990 als politischer Flüchtling nach Deutschland. Eigentlich wollte er nach Kanada. Aber der Bundesgrenzschutz hinderte ihn daran, wofür wir der Bundespolizei nachhaltigen Dank schulden. Wenige Jahre später gründete Mohit den Sujet-Verlag. Zu Mohits selbstdefiniertem Sujet wurde die „Luftwurzelliteratur“. Dazu schreibt er im Vorwort von „Unter dem Schnee“: „Luftwurzeln halten sich nicht an Grenzen, sondern wachsen über sie hinaus. Sie verankern sich nicht nur an einem Ort, sondern an mehreren. Sie sind beweglich, lebendig und reagieren auf ihre Umwelt. Auch Menschen schlagen Luftwurzeln. Sie reisen, wandern aus, flüchten. Sie lassen ihre Heimat hinter sich und finden eine neue. Sie fühlen sich nicht nur an einem Ort zugehörig, sondern an mehreren, sie verfügen über eine komplexe kulturelle Identität.“

Das Bild ist so poetisch wie genau. Poetisch, weil das Wort die Luftigkeit der Künste evoziert. Es ist genau, weil der botanische Begriff der Luftwurzel daran erinnert, dass Verwurzelung nicht ausschließlich in der (Heimat-)Erde erfolgt, sondern das die Natur andere, wunderlichere Formen dafür entwickeln kann.

In den letzten knapp 20 Jahren hat Madjid Mohit vor allem Autoren publiziert, die aus anderen Teilen der Welt stammen, aber hier leben und auf Deutsch schreiben. Er hat aber auch immer wieder Werke „bio-deutscher“ Autoren veröffentlicht. „Unter dem Schnee“ bedeutet ein Novum für ihn: die Veröffentlichung neuer Gedichte einer deutschen Schriftstellerin in einer zweisprachigen Ausgabe.

Der Begriff „Luftwurzeln“ trifft übrigens auf seine Weise nicht nur auf Madjid Mohit zu. Monica Schefold ist in Deutschland geboren, aber in Irland aufgewachsen, wohin ihre Eltern sich aus Nazi-Deutschland zurückziehen mussten. Sie ist auf langen Umwegen nach Deutschland zurückgekehrt. Ihre Zugehörigkeit zur Luftwurzelkunst kann kaum bestritten werden; man könnte sogar sagen, dass sie über ein doppeltes System von Luftwurzeln verfügt, das ihr ermöglicht, in Irland als Deutsche und in Deutschland als Irin zu überleben. In Bremen ist sie seit 1980 zu Hause. Das Material ihrer Kunst ist vielgestaltig und beruht nicht zuletzt auf der langjährigen Praxis, Flohmärkte zu besuchen. Zuletzt hat sie sich ganz auf die Collage konzentriert. Gerd Sautermeister hat ihre Collagier-Kunst präzise auf den Nenner gebracht: „Sie fesseln den Betrachter, weil sie ihre Bedeutung nicht unmittelbar zu erkennen geben, sondern zunächst einmal verbergen.“

Auch in dem hier vorgestellten Buch sind Schefolds Collagen nie Illustrationen der Gedichte. Sie stehen vielmehr selbstständig neben diesen. Manchmal lässt sich ein assoziativer Zusammenhang zu den Gedichten herstellen. Etwa wenn in einer Collage Herbstlaub zu sehen ist und die flankierenden Gedichte den Herbst thematisieren. Aber in den meisten Fällen ist es schwer möglich, eine solche konkrete Beziehung zu den Texten herzustellen. Zarte Libellenflügel vor einem hochaufragenden Berggipfel lassen den Betrachter ebenso fasziniert wie irritiert verweilen. Solche Collagen stehen für sich und schaffen Momente der Ruhe, in der die Gedichte nachwirken können.

Inge Buck ist in Süddeutschland aufgewachsen, hat in Tübingen, München und Wien studiert. Nach ihrer Promotion war sie Redakteurin beim Deutschlandfunk in Köln. An der Hochschule Bremen war sie als Kulturwissenschaftlerin tätig. Aber wo bleiben hier die Luftwurzeln? Hier muss ein erweiterter Begriff des Luftwurzeltums zur Anwendung kommen, der vor allem darauf beruht, dass auch im föderalen deutschen System ein erhebliches Maß an Luftverwurzelung erforderlich ist, jedenfalls dann, wenn es einen in andere, wesensfremde, Landesteile verschlägt.

„Erinnerung an Omar Khayyam“: Ein höheres Lob ist aus persischem Mund für eine deutsche Dichterin schwerlich vorstellbar

In ihrem zehnten Band vereinigt Buck Gedichte, die hochkomprimiert und zugleich äußerst zugänglich sind. „Unter dem Schnee“ ist zugleich der Titel eines der Gedichte. Man könnte meinen, dass es sich um Winter-Poesie handelt. Aber Frühling, Sommer und Herbst kommen ebenfalls zu ihrem Recht. Und es ist auch keine reine Naturlyrik. Vielmehr schlägt die Betrachtung einfachster Naturphänomene („Wind“, „Frühlingsvogel“, „Stein“, „Gras“) regelmäßig in Überlegungen über Leben, Liebe, Vergänglichkeit und Tod um.

Im Titelgedicht befinden sich unter dem Schnee zunächst die Toten, in zweiter Linie ist es (immer noch ganz realistisch) das Gras vom Vorjahr. Aber in dritter Linie sind es „meine Liebesbriefe | aufbewahrt | unter dem Schnee | für dieses Jahr“. Es ist der Schnee von gestern.

Schon bei vorangegangenen Gedichtbänden haben manche die Nähe der Gedichte Bucks zu Haikus und anderen lyrischen Kurzformen vermerkt. Mohit schreibt im Vorwort, dass einige der Gedichte ihn an Omar Khayyam erinnern. Ein höheres Lob ist aus persischem Mund für eine deutsche Dichterin schwerlich vorstellbar.

■ Lesung: Montag, 19.30 Uhr, Buchhandlung Leuwer