: Niedrigverdiener kriegen 17 Euro mehr – im Jahr, natürlich
STEUERN Wie Finanzminister Schäuble ein Problem löst, das laut Finanzministerium gar nicht existiert
BERLIN taz | Die CSU reagierte begeistert auf die Ankündigung des Finanzministers, die kalte Progression abzuschaffen. Dies könne der „Anfang eines steuerpolitischen Frühlings sein“, jubelte etwa Generalsekretär Andreas Scheuer. Gleich darauf forderte der CSU-Mann weitere, viel größere Steuersenkungen.
Die Koalition hat sich bei einem Dauerbrenner verständigt. Die kalte Progression ist ein kleines Ärgernis. Sie betrifft Angestellte, deren Lohnerhöhungen durch die Inflation aufgefressen werden. Sie können in höhere Steuertarife rutschen, obwohl sie real nicht mehr verdienen.
CDU, CSU und SPD waren sich seit Langem einig, diesen Effekt abschaffen zu wollen. Als Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) am Donnerstag das Ergebnis der Steuerschätzung bekannt gab, erklärte er: „Ich schlage vor, dass wir das Problem der kalten Progression jetzt lösen.“ Beifall aus der Union war ihm gewiss. Auch der Bund der Steuerzahler applaudierte. Und SPD-Chef Sigmar Gabriel betonte, der Aufschwung müsse bei den Arbeitnehmern ankommen.
Ab Januar 2016 soll der Steuertarif laut Schäuble angepasst werden, und zwar in Höhe der kumulierten Inflation der Jahre 2014 und 2015 – sie lag bei 1,5 Prozent. Diese Reform kostet den Staat 1,5 Milliarden Euro im Jahr. Zum Vergleich: Die Regierung gibt 2015 nur 372 Millionen Euro für Klimaschutz aus.
Der Bund der Steuerzahler hat ausgerechnet, wie sich das im Portmonee bemerkbar macht. Ein Niedrigverdiener mit einem Bruttoeinkommen von 20.000 Euro spart 17 Euro im Jahr. Gutverdiener, die 60.000 Euro brutto und mehr haben, sparen jährlich 100 Euro. Sie profitieren also am stärksten. Und der Gewinn ist für alle Arbeitnehmer kaum spürbar. Der Widerspruch zwischen dem Lob und der Realität ist dem Finanzminister bewusst. Weil die Inflation so niedrig liegt, fällt die kalte Progression kaum ins Gewicht. Es gehe um das Prinzip, sagte Schäuble. Die Grüne Lisa Paus fragte Schäubles Ministerium im Februar, wie sich der Effekt 2015 und 2016 auswirke, wenn die Inflation bei 1 Prozent liege und die Regierung den Grundfreibetrag wie geplant anhebe. Antwort: Dann verbleibe in beiden Jahren keine kalte Progression. Der Finanzminister löst also ein Problem, das laut Finanzministerium gar nicht existiert. ULRICH SCHULTE