: Eine religiöse Erfahrung
Sue Graham Mingus liest heute in Hamburg aus ihrer Biographie „Tonight at Noon“ über ihr Leben mit Bandleader Charles Mingus. Es spielt das Charles Mingus Orchestra
Charles Mingus gilt als der Angry Man des Jazz. Wenn ihm etwas nicht passte, dann sagte er das laut und oft überdeutlich. Musiker, die nicht so spielten, wie er wollte, feuerte er während eines Konzerts, verwies sie der Bühne. Um sie dann im Lauf des Abends doch wieder einzustellen. Über soziale Ungerechtigkeit konnte er sich so aufregen, dass seine Kollegen befürchteten, sein nicht unerheblicher Leibesumfang müsse bald platzen. Seiner späteren Frau Sue Graham riet er bei der ersten Begegnung an der Bar des Five Spot Jazz Clubs in Lower Manhattan: „Wenn ich dein Daddy wäre, würde ich die Zähne richten lassen.“
Doch muss man den begnadeten Bassisten, Bandleader und Komponisten verstehen: Zeit seines Lebens kämpfte er um Gerechtigkeit. Er sah nicht ein, warum schwarze Musiker in den damals noch von der Segregation beherrschten USA anders behandelt wurden als weiße. Warum die Jungs, mit denen er auf der Bühne stand, ihr Geld in Heroin umsetzten, um dann nicht mehr so spielen zu können, wie er es sich vorstellte. Und er verlangte vom Publikum, dass es den Musikern beim Spielen zuhören solle.
Verständliche Wünsche, deren Nichterfüllung Charles Mingus in Rage brachte. Mit einem solchen Mann zu leben war sicher nicht einfach. Sue Graham Mingus hat ihn sogar geheiratet. Über ihr gemeinsames Leben hat sie ein sensibles und in jeder Hinsicht wunderbares Buch geschrieben. Tonight at Noon ist vor kurzem erschienen, zusammen mit der Wiederveröffentlichung von Mingus’ Autobiographie Beneath the Underdog. Sue Graham Mingus war selbst Journalistin und gab die Zeitung Changes heraus. Dennoch nimmt sie sich in ihrem Buch stark zurück. Heute Abend wird sie in Hamburg lesen. Lustige Anekdoten über ihren verschrobenen Gatten werden dabei sein. Und bestimmt geht es auch um das traurige Sterben eines Titans.
Nicht zuletzt auf Initiative von Sue Graham Mingus entstanden nach dem Tod des Musikers auch mehrere Repertoirebands, die seine Musik fortführen, darunter das Charles Mingus Orchestra, das heute ebenfalls auftreten wird. Wobei man tunlichst nicht davon sprechen sollte, dass die elf Musiker die Lesung begleiten. Sie ergänzen sich. „Mit Mingus zusammen spielen ist für mich wie eine religiöse Erfahrung“, sagte der Gitarrist Larry Coryell nach den Aufnahmen zur LP Three or four Shades of Blues. Ein ähnliches Gefühl haben die Jazzer noch heute, wenn sie seine Musik spielen, auch wenn der Komponist seit fast 25 Jahren tot ist. Charles Mingus erkrankte an Amyotropher Lateralsklerose, einem Nervenleiden, das zu Lähmungserscheinungen führt. Er starb am 5. Januar 1979 mit 56 Jahren in Cuernavaca in Mexiko. Seine Witwe verstreute seine Asche im Ganges. Sie beschreibt auch den letzten Moment, in dem Mingus’ Bass erklang: „Am folgenden Morgen versuchte Charles es selbst, stand ohne Gehhilfe auf. Ich schloss die Augen und betete. Er zupfte ein paar Töne. Dann ließ er die Hand von den Saiten sinken und gab der Schwester das Instrument zurück. Er fasste es nie wieder an.“ EBERHARD SPOHD
Samstag, 20 Uhr, Fabrik, Barnerstraße 36, Hamburg. Sue Graham Mingus: Tonight at Noon, Nautilus Verlag, Hamburg, 2003, 22 Euro. Charles Mingus: Beneath the Underdog, Nautilus Verlag, Hamburg, 2003,16,90 Euro