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Archiv-Artikel

Der Gott der Außenseiter

OPERNPREMIERE Barrie Kosky inszeniert an seiner Komischen Oper „Moses und Aron“ von Arnold Schönberg. Mit einem Riesenchor wird das abschreckend schwierige Zwölftonstück zum großen jüdischen Welttheater

Ein zerzauster Denker, der lieber Schafe hüten möchte als Gottes Gesetze verkünden

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Er meint es ernst. Barrie Kosky will an der Behrenstraße in Berlin, wo das Metropol-Theater stand, die Geschichte weiter erzählen, die 1933 auch dort zu Ende ging. Es ist die Geschichte der Moderne. Der ganzen Moderne, zu der mehr gehört als das Zentralgestirn eines Arnold Schönberg, der ja erst nach dem Krieg mit seiner angeblichen Schule kanonisiert worden ist.

Auch ihn holt Kosky jetzt an sein neues Metropol-Theater. Er holt ihn zurück, muss man sagen, obwohl er dort nie gearbeitet und ganz sicher niemals Operetten mit nachsingbaren Schlagern geschrieben hat. Aber ohne die Operetten und Revuen des Metropol wäre auch er nicht möglich gewesen.

Immerhin hatte er im Berliner Kabarett „Überbrettl“ auch die Musik seines Wiener Kollegen Oscar Straus dirigiert. Als Vorübung hatte Kosky wohl ganz bewusst im Februar die Vaudeville-Komödie „Eine Frau, die weiß, was sie will“ von Straus auf den Spielplan der Behrenstraße gesetzt, wo sie 1932 auch tatsächlich uraufgeführt worden war. Dagmar Manzel und Max Hopp singen und spielen etwa 30 Rollen so überwältigend virtuos, dass sämtliche Vorstellungen auf Monate hin ausverkauft sind.

Jetzt ist alles umgekehrt. Ungefähr 200 Personen stehen auf der Bühne so dicht gedrängt, dass sie sich überhaupt nur in einer Schritt für Schritt einstudierten Choreografie bewegen können. Und zwei Männer (Robert Hayward und John Daszak) singen und spielen zwei Rollen, die absolut gar keinen Revueglanz verbreiten: ein zerzauster Denker, der lieber Schafe hüten möchte als Gottes Gesetze verkünden, und ein schmieriger Dorfgaukler, der ein paar Zaubertricks kann. Zum Beispiel kann er einen Stab seinem Bruder so in den Hals rammen, dass er ihm nachher als zappelnde Schlange aus dem Maul hängt.

Toll, das Volk jubelt, aber nun nicht zum Mitsingen fröhlich, sondern in einer so irrsinnig komplizierten Mischung von Sprechen und Singen, dass die vom Berliner Vocalconsort verstärkten Chorsolisten am Ende zu Recht den lautesten Applaus ernten. Und aus dem Orchester klingen nicht die eleganten Walzerchen und Liedchen der Metropol-Komödie, sondern der allerhärteste Schönberg, dessen hier zum ersten Mal ausschließlich angewandte Zwölftontechnik zu einer Musik führt, die auch heute noch nicht beim bloßen Zuhören verstehbar ist.

Dass Vladimir Jurowski (Chefdirigent des London Philharmonic Orchestra) es trotzdem geschafft hat, sie wenigstens sinnlich in ihrer kargen, schroffen Schönheit erfahrbar zu machen, ist bewundernswert. Barrie Kosky meint es eben wirklich ernst. So extrem weit Oscar Straus und Arnold Schönberg auseinander liegen, sie gehören zu der einen großen Geschichte des jüdischen Geistes, nicht des Volkes (und schon gar nicht einer angeblichen Rasse), sondern der Außenseiter jeder Gesellschaft, der Vertriebenen und Verachteten.

Sie hat auch religiöse Mythen und Rituale erzeugt, aber Schönberg, Kosky und Jurowski führen sie uns vor als Geschichte des Erzählens und Theaterspiels. Moses und Aron ringen mit ihrem Volk um die letzten Fragen des Glaubens. Der Protestant Beckett darf die beiden mit einem Zitat vorstellen: Sie warten wie Wladimir und Estragon auf einen Gott, der nie kommt und sowieso nur ein Gott für Phantasten und Träumer ist.

Daraus entwickelt Kosky ein Theater, das einerseits selbst wie ein Zaubertrick der Marke Aron aussieht, andererseits in Dimensionen ausbricht, die die ganze Welt meinen. Mal brennen die Schuhe, weil Gott spricht. Dann teilt sich der Chor in lauthals streitende Lager auf. Später müssen alle auch noch Puppen im Gedränge vor sich her tragen, damit wir auch wirklich und überlebensgroß das ganze Schtetl versammelt sehen mit Rabbis, Marktfrauen und Polizisten.

Statt der „vier nackten Jungfrauen“, die Schönberg vorschrieb, stolziert aus dem Fundus des Metropol ein goldglänzendes Revuegirl zur Orgie am goldenen Kalb, bald darauf sekundiert von drei nicht minder prachtvollen, fast nackten Männern. Man kann sich schwer vorstellen, dass Schönberg jemals gelacht hat. Gelächelt hätte er hier wohl schon. Und Oscar Straus hätte wohl den Kopf geschüttelt über diese Musik, aber auch er hätte gelächelt. Denn es ist der Geist von Erik Charell und seinen Revuen, den Kosky beschwört, um Arnold Schönberg das größtmögliche Theater zu schenken – so wie er Oscar Straus das kleinstmögliche Theater geschenkt hat. Immer stehen letzte Fragen offen, mal nach Gott, mal nach der Liebe. Bei Kosky sind sie einfach nur menschlich, daher melancholisch und komisch in einem.

Am Ende wirft der Chor seine Puppen auf einen Haufen. Moses stapft darin herum: „Wort, oh Wort, das mir fehlt“. Vor 70 Jahren ist das Konzentrationslager von Auschwitz befreit worden. Man kann bei diesen Puppen an die Leichenhaufen dort denken. Man muss nicht, aber man darf. Denn Kosky meint es wirklich ernst.

■ Nächste Vorstellungen: 24. u. 28. 4.; 2. u. 10. 5.; 7. 7. 2015