: Zoo-Aktie Nr. 2389, erst jüdisch, dann „arisiert“
GESCHICHTE Eine Zoo-Aktie ist etwas Besonderes. Nur 4.000 Stück davon sind im Umlauf. Natürlich besaßen auch jüdische Berliner Aktien, zum Beispiel Emil Nawratzki – ihm gehörte Nummer 2389. Doch dann kamen die Nazis. Der angesehene Psychiater musste seine Heilanstalt verkaufen und ging in den Freitod. Seine Aktie wurde „arisiert“. Monika Schmidt hat im Auftrag der Zoo AG das Schicksal Nawratzkis und anderer Betroffener recherchiert und publiziert – bislang ohne Folgen
■ Um die wirtschaftliche Grundlage zu verbessern, erhält der Zoo 1845 die Rechtsform eines Aktienvereins. Eine AG ist er heute noch.
■ Eine einzige Aktie besitzt das Land Berlin, die übrigen 3.999 befinden sich breit gestreut in Privatbesitz.
■ Ab 1938 werden wahrscheinlich die meisten Zoo-Aktien von jüdischen Besitzern „arisiert“. Der Zoo kauft diese Aktien günstig zurück und veräußert sie mit Gewinn an nichtjüdische Interessenten.
■ Bereits ab 1933 wird damit begonnen, jüdische Mitglieder aus dem Aufsichtsrat der Zoo AG zu drängen. 1939 beschließt der Zoo ein Besuchsverbot für Juden. (taz)
VON CLAUDIUS PRÖSSER
Am 3. Februar 1919, dem Tag, an dem er die Aktie Nr. 2389 des Berliner Zoologischen Gartens erwirbt, ist Emil Nawratzki noch ein glücklicher Mensch. Zumindest können wir ihn uns so vorstellen. Nawratzki, 51 Jahre alt, Psychiater und Sanitätsrat, verheiratet, zwei Töchter, leitet mit seinem Kollegen Max Arndt seit 1904 die private „Heilanstalt für Gemütskranke“ in Nikolassee, besser bekannt als „Arndt- und Nawratzki’sches Haus“. Ein erfolgreicher und angesehener Arzt, der sein gesellschaftliches Engagement nun auch mit dem Erwerb eines Anteils am „Actien-Verein des zoologischen Gartens zu Berlin“ zum Ausdruck bringt.
Eine Zoo-Aktie ist etwas Besonderes – bis heute. Nur 4.000 Stück sind im Umlauf, allerdings bleiben sie meist über Generationen in Familienbesitz. Der Zoo muss jedem Verkauf einer dieser „vinkulierte Namensaktien“ zustimmen, der neue Besitzer wird im Aktienbuch des Traditionsunternehmens vermerkt. Eine Dividende wird nicht ausgeschüttet, aber neben dem damit verbundenen Prestige ermöglicht die Aktie dem Inhaber und direkten Angehörigen freien Eintritt.
Der Zoo war ein Treffpunkt fürs Berliner Bürgertum
Auch Emil Nawratzki, seine Frau Johanna Antonia, genannt Toni, sowie ihre Töchter Charlotte und Ilse dürften davon Gebrauch gemacht haben. Der Zoo war damals mitnichten nicht nur ein Tierpark: In seinen Ballsälen, Cafés und Restaurants traf sich das Berliner Bürgertum.
Vielleicht ging die Familie an Sonntagen zwischen Löwen und Elefanten spazieren, vielleicht sah sie Murnaus „Nosferatu“ bei der Uraufführung 1922 im Marmorsaal. Es ist uns nicht überliefert … Was wir wissen: Emil und Toni Nawratzki nahmen sich am 7. Juli 1938 in ihrer Wohnung das Leben. Vor dem Haus Teutonenstraße 15 in Nikolassee erinnern „Stolpersteine“ an das jüdische Ehepaar. Die Töchter waren zu diesem Zeitpunkt bereits nach Palästina und Italien emigriert.
Was über Nawratzkis Leben heute noch bekannt ist, hat die Historikerin Monika Schmidt gesammelt. Unter anderem fand sie in den Archiven von Jad Vaschem den Pass des Mediziners. Er zeugt von einer Reise nach Palästina im Jahr 1935 – ein Visum zur Immigration hatte er nicht erhalten oder nicht beantragt. Zu diesem Zeitpunkt war Nawratzki auch noch Chefarzt seiner Klinik, 1936 sah er sich aber gezwungen, sie zu verkaufen.
Die Zoo-Aktie mit der Nummer 2389 landete nach seinem Freitod offenbar beim Zoologischen Garten, der sie 1942 an eine gewisse Hildegard B. veräußerte. Ganz geklärt ist der Weg, den sie nahm, nicht.
Emil Nawratzki war nur einer von vielen jüdischen Besitzern einer Zoo-Aktie, deren Geschichten Monika Schmidt aus Archivmaterial und Gesprächen mit Nachkommen rekonstruiert hat. Nachzulesen sind sie in der vor Kurzem als Buch erschienenen Studie „Die jüdischen Aktionäre des Zoologischen Garten zu Berlin“. In Auftrag gegeben hatte das Forschungsprojekt die Zoo AG; sie übernahm auch die Finanzierung, gemeinsam mit dem Verein der Freunde und Förderer des Zoologischen Gartens und der Stiftung Deutsche Klassenlotterie.
Was den Fall Nawratzki besonders macht, ist nicht die Fülle von biografischen Details – Schmidt fand an anderer Stelle deutlich mehr Informationen –, sondern die Tatsache, dass es 1953 zu einem Verfahren vor der Wiedergutmachungskammer des Berliner Landgerichts kam. Eine große Ausnahme. Der Prozess endete mit einem Vergleich: Die Erben – Nawratzkis Töchter – erhielten vom Zoo-Aktien-Verein 100 DM, jedoch keine neue Aktie, Hildegard B. durfte die Aktie mit der Nummer 2389 behalten.
Kein Einzelfall: Die meisten Zoo-Aktien wurden arisiert
Wohl die meisten der Zoo-Aktien von jüdischen Besitzern wurden „arisiert“: Ihre Besitzer waren aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen, sie billig abzustoßen. In der zweiten Hälfte des Jahres 1938 profitierte vor allem der Zoologische Garten selbst von dieser Notlage, indem er diese Aktien günstig zurückkaufte und mit Gewinn an nichtjüdische Interessenten weiterreichte. Ab 1939 trat schließlich eine neue Stufe gesellschaftlicher Ausgrenzung und Enteignung in Kraft: der sogenannte Depotzwang, der den Banken die Verfügungsgewalt über Wertpapiere von Juden gab.
Viele Einzelheiten liegen noch im Dunkeln, die Geschichte jeder einzelnen Zoo-Aktie wird wohl nie geklärt werden. Das ursprüngliche Aktienbuch des Zoologischen Gartens ist seit dem Krieg verschollen und nur unvollständig rekonstruiert. Mit mehr Zeit für das Forschungsprojekt, sagt Monika Schmidt, hätte sie freilich noch mehr Biografien recherchieren können. „So bleibt die Studie nur ein kleiner Blick auf das Spektrum der jüdischen Aktionäre.“
Immerhin hat dieses Maß an Aufarbeitung eine ganz neue Dimension, vergleicht man sie mit dem Stillschweigen, das im Zoo jahrzehntelang zu dem Thema herrschte. Bewegung kam erst durch Werner Cohn hinein. Der emeritierte Soziologieprofessor aus New York ist der Sohn des ehemaligen Zoo-Aktionärs James Cohn, der mit seiner Familie in die USA emigriert war. Deren Biografie schildert Schmidt in ihrem Buch ausführlich.
Werner Cohn machte im Jahr 2000 mit seinen eigenen Worten „ein Fass auf“, als er sich beim Zoo nach dem Verbleib der Aktie seines Vaters erkundigte – und abgewimmelt wurde. Man sei nicht zuständig, wurde ihm damals recht rüde mitgeteilt, niemand sei enteignet worden. Cohn machte die Vorgänge über seine Website publik.
Vor diesem Hintergrund recherchierte Monika Schmidt, die am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU arbeitete, den Umgang des Zoos mit seinen jüdischen Aktionären. 2002 erschien der Aufsatz im Jahrbuch des Zentrums, in gekürzter Fassung auch in Bongo, der Hauszeitschrift des Zoos. Ermöglicht hatte das der damalige Direktor Hans Frädrich.
Exemplarisches Beispiel der Zerstörung
Schmidts Fazit schon damals: Der Berliner Zoo sei eine „Stätte christlich-jüdischer Symbiose“ gewesen, seine Geschichte exemplarisch für „das Milieu des assimilierten, integrierten und gestaltend wirkenden bürgerlichen Judentums […] sowie dessen völlige Zerstörung innerhalb weniger Jahre“.
Monika Schmidt zeichnet nach, wie der Zoo bereits 1933 damit begann, die jüdischen Mitglieder aus seinem Aufsichtsrat zu drängen, die dann durch Nazis und Personen aus deren Entourage ersetzt wurden, etwa den SS-Brigadeführer Ewald von Massow oder den „Rassehygieniker“ Eugen Fischer, Leiter des Dahlemer Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, Erblehre und Eugenik. Es folgte die Aktien-„Arisierung“.
Ihren unrühmlichen Abschluss fand die Verdrängung von Juden aus dem Zoologischen Garten in dem Besuchsverbot, das 1939 staatlich verordnet wurde, von der Zooleitung aber vorauseilend – noch vor dem Novemberpogrom 1938 – beschlossen worden war.
In diesem Zusammenhang zitiert Schmidt aus einer Rede von Hans Ammon vor der Hauptversammlung 1939. Der damalige Zoodirektor ließ das abgelaufene Geschäftsjahr Revue passieren und gab für kommende Generationen die hasserfüllte und opportunistische Geisteshaltung zu Protokoll, die damals im Aktien-Verein des Zoos herrschte: „Es war ohne Zweifel ein Jahr, in dem so ‚allerhand los war‘, wie der Berliner sagt, und davon ist der Zoologische Garten nicht unberührt geblieben. Er war ja immer ein wesentliches Stück Lunge der Großstadt Berlin mit frischer, sauberer Luft, aber ich finde, seit dem November 1938 ist die Luft bei uns noch reiner geworden als zuvor.“
Eine Gedenktafel erinnert an die jüdischen Aktionäre
Seit Juni 2011 hängt am Antilopenhaus, einem der wenigen historischen Gebäude, die den Krieg überstanden haben, eine „Berliner Gedenktafel“ aus KPM-Porzellan. „Der Zoologische Garten Berlin“, so die Inschrift, „entwickelte sich gerade auch mit Unterstützung seiner jüdischen Aktionäre zu einem kulturellen und gesellschaftlichen Mittelpunkt der Stadt. Während der NS-Herrschaft wurden sie diskriminiert verfolgt, entrechtet und enteignet. Sie waren gezwungen, auch ihre Zoo-Aktien zu veräußern. Als Juden blieb ihnen der Zutritt zum Zoologischen Garten Berlin verwehrt. In Trauer und zur steten Mahnung, Zoologischer Garten Berlin Aktiengesellschaft.“
■ Nach einer Bauzeit von drei Jahren wird der Zoologische Garten am 1. August 1844 eröffnet – als erster Zoo in Deutschland; als neunter in Europa.
■ Öffentliche Verkehrsmittel existieren damals noch nicht: einer der Gründe, warum sich der Zoo in den ersten 25 Jahren nur schleppend entwickelt. Für die Berliner liegt der Zoo weit jenseits der historischen Stadtgrenzen – also jwd.
■ 1871 wird das Antilopenhaus mit seinen Minaretten eröffnet, das bald als eine der Sehenswürdigkeiten Berlins gilt. Es folgen das Elefantenhaus im indischem Stil, das ägyptische Straußenhaus, das japanische Stelzvogelhaus, das Elefantentor und die Häuser für Einhufer in arabischem Stil. 1913 eröffnet das große Aquarium.
■ Vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs umfasst der Säugetierbestand laut Auskunft des Zoos 1.196 Tiere in 385 Arten. Die ersten Bomben auf den Zoo fallen 1941, weitere schwere Angriffe folgen 1943 und 1944. Ein Großteil der Bauten wird zerstört, fast die gesamte Infrastruktur vernichtet. Lediglich 91 Tiere überleben den Krieg. (taz)
Dass der Zoo die Tafel finanzierte und anbringen ließ, war vor allem das Verdienst von Gabriele Thöne, seinerzeit kaufmännischer Vorstand der Zoo AG. Thöne verließ den Zoo später im Streit mit dem umstrittenen Direktor Bernhard Blaszkiewitz. Sie sitzt im Vorstand der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und hatte durch Monika Schmidts Recherchen von der Unrechtsgeschichte ihres damaligen Arbeitgebers erfahren.
Das ließ Schmidt nicht los: „Aus einer solchen Institution auf diese Art ausgeschlossen zu werden, war eine Demütigung, die wir uns heute vielleicht kaum vorstellen können“, sagt Thöne. Auf ihre Initiative hin wurde Schmidt mit den weiterführenden biografischen Recherchen beauftragt.
Was folgt aus der Recherche? Erst mal nichts
Die liegen jetzt vor. Aber was folgt daraus? Im Zoo-Shop sucht man Schmidts Buch vergeblich, und glaubt man der Zoo-Website, die die Historie des Gartens detailreich schildert, ereigneten sich zwischen 1933 und 1945 nur tiergärtnerische Highlights: der Bau „naturalistisch anmutender Freianlagen“ wie Pinguin- und Pavianfelsen oder Expeditionen nach Äthiopien oder Kamerun, durch die der Zoo „interessante und seltene Tiere erhielt“.
Gut möglich, dass die neue Zooleitung unter dem seit April 2014 amtierenden Direktor Andreas Knieriem eine offenere Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, vielleicht auch weitere Gesten gegenüber den Nachfahren der Aktionäre plant. Auf Nachfrage verweist man derzeit auf die Studie und bittet um Geduld: „In den nächsten Monaten wird der Zoo auf der Grundlage dieses Forschungsprojekts eine Bewertung erarbeiten und im Mai im Aufsichtsrat besprechen“, so Zoo-Sprecherin Christiane Reiss zur taz.
Wiedergutmachung? Juristisch schwierig
Mit einer materiellen Rückerstattung dürfte eher nicht zu rechnen sein. Rein juristisch ist es tatsächlich schwierig, im Einzelnen einen konkreten Zwang zu den Verkäufen zu konstatieren. Auch auf der Basis von Schmidts Studie sei „schwer nachzuvollziehen“, wie genau die Aktien unter Druck abgegeben worden seien, zitierte die Berliner Morgenpost Knieriem im Januar. Der streng limitierte Aktienbestand erlaube auch keine Neuausgabe von Papieren.
Worüber beim Zoo derzeit nachgedacht wird, darüber weiß Monika Schmidt nichts. „Ich finde das schade“, sagt sie. Von Andreas Knieriem selbst habe sie bis heute keinerlei Reaktion bekommen. Wie eine Geste konkret aussehen könnte, will sie sich nicht anmaßen zu beurteilen. Aber sie ist fest davon überzeugt, dass es bei den Nachkommen ein großes Bedürfnis danach gibt: „Viele waren ja selbst noch als Kinder im Zoo. Manche sagen, sie seien dort quasi aufgewachsen.“