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Archiv-Artikel

Verdi im Wahlkampf

Premiere in der Staatsoper: Jossi Wieler und Sergio Morabito lassen Giuseppe Verdis „Un ballo in maschera“ im Konferenzraum eines Hotels spielen. Dort balgt man sich um Macht und Bett

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Schon Giuseppe Verdi war nicht recht glücklich mit diesem Stoff. Die Personen schienen ihm zu schematisch gezeichnet, und die Verschränkung von politischer Verschwörung und Ehebruch im ausgehenden 18. Jahrhundert war nicht gerade neu. Verdi arbeitete an einem „King Lear“ nach Shakespeare, einem dramatisches Schwerstgewicht also, das leider nie fertig wurde. Ein Vertrag mit dem Theater von Venedig zwang ihn, Shakespeare beiseitezulegen und ein leichteres Stück in Angriff zu nehmen. Doch gerade das minderwertige Drama „Un ballo in maschera“ wurde zum Experimentierfeld, das noch heute durch seine Kühnheit verblüfft.

Philippe Jordan, der Dirigent, lässt in der Staatsoper von den ersten Takten an hören, dass es um weit mehr geht als den Glanz schöner Stimmen. Kurze, fragmentarische Motive im Orchester öffnen einen musikalischen Raum, in dem alles zugleich sein Gegenteil sein kann. Ein knapper Eingangschor führt das Prinzip vor: Die hohen Stimmen lobpreisen einen Grafen namens „Ricardo“, danach rufen die tiefen nach Rache für die Verbrechen ebendieses Herrschers, dann vereinigen sich beide. Triumph und Verderben sind eines: Nicht der Text, der musikalische Kontrapunkt allein erzeugt das Drama.

Immer wieder unterbrochen von spontanem Szenenapplaus halten Chor und Solisten dieses Niveau den ganzen Abend lang durch. Es ist ein eher schroffer, wenig glanzvoller Verdi zu hören, eben jener Verdi, der auf dem Weg zu Shakespeares nüchternem Blick auf die menschliche Existenz ist. Böses und Gutes ist gleichermaßen Schicksal, operettenhafter Frohsinn schlägt in Verzweiflung um, auch wenn die Figuren gar kein Innenleben zu haben scheinen. Als empfinde er Mitleid darüber, schenkt ihnen Verdi eine absolute musikalische Sprache, in der sie über ihre psychologische Dürftigkeit hinauswachsen.

Höhepunkt des Werkes ist deshalb nicht der Mordanschlag auf den Grafen, ausgeführt von seinem besten Freund, sondern die Szene des ersten Aktes, in der eine Wahrsagerin das Verhängnis voraussieht. Kostümiert als blinde Bettlerin schließt die Russin Larissa Diadkova mit mächtiger, rauer Altstimme die dämonische Unterwelt von Verdis Musikdramatik auf. Objektive, unabwendbare Tragik ist sein Thema, nicht die individualpsychologische Deutung der Seele.

Jossi Wieler, der Regisseur, versucht auch diese Schlüsselszene in das strenge, einheitliche Konzept seiner Inszenierung zu pressen. Es gelingt nicht ganz, denn Wieler hat die Handlung von einem schwedischen Hof in eine spätkapitalistische Herrscherklasse verschoben, die sich zu einer Konferenz trifft. Schauerlich genau hat die Bühnenbildnerin Barbara Ehnes den Vortragsaal eines Tagungshotels der oberen Mittelklasse getroffen, in der sich schmierig und lächerlich nicht sehr feine Herren und Damen um die Macht und die Betten balgen. Zensurbedenken hatten seinerzeit schon Verdi gezwungen, den Schauplatz nach Boston zu verlegen, und so dürfen wir uns nun aktuellerweise vorstellen, wie es bei den Vorwahlkämpfen der US-Republikaner zugehen mag.

Man kann sich das gut vorstellen. Jossi Wieler und sein Dramaturg Sergio Morabito zeichnen sorgfältig und mit viel Liebe zum Detail eine verlogene, erbärmlich banale Gesellschaft. Zur Dämonie des tragischen Schicksals allerdings sind diese Karrieristen nicht fähig. Seltsamerweise singen sie trotzdem Verdis Arien – manchmal sieht es aus wie ein Karoake-Abend. Aber vielleicht war das von Anfang an das Problem dieses Maskenballs, dessen Musik ein so viel größeres Drama aufführt als das Stück, das auf der Bühne zu sehen ist.

Staatsoper Unter den Linden, nächste Aufführungen: 24., 27., 30. Januar