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Archiv-Artikel

Live aus der Ungewissheit

In der „Lindenstraße“ wird geheult und dann gefeiert, ein Emohighlight jagt im Fernsehen das nächste – doch am Ende des Wahlabends stößt das Medium an die Grenzen der Prognose

VON JUDITH LUIG und KLAUS RAAB

Um 19.14 Uhr am Sonntagabend fließen in der ARD Tränen. Kuchengrafik- und balkenstatistikbesoffen haben zu diesem Zeitpunkt schon sämtliche Partei-Kittelschürzen ihre Wahlergebnisse in die Mikrofone geschönt und verkürzt. Norbert Schmitt, der hessische Generalsekretär der SPD, hat sich für die bundespolitische Bühne empfohlen und von einem „Wunder“ geurigellert – Volker Bouffier, CDU-Innenminister in Hessen, die Zahlen eher statisch betrachtet und beide Lager politisch „ziemlich gleichauf“ gesehen.

Das Einzige aber, was man zu diesem Zeitpunkt schon weiß, ist: Mindestens eines der Wahlforschungsinstitute von ARD und ZDF – Infratest dimap für die ARD, die Forschungsgruppe Wahlen für das ZDF – hat bei den ersten Hochrechnungen für Hessen unrichtige Mehrheiten vorausgesagt. Die ARD prognostizierte eine hauchdünne Mehrheit für Rot-Grün, das ZDF ein Patt mit Tendenz zu Schwarz-Gelb. Nach mehreren Hochrechnungen, die nur dazu dienen, die Ungewissheit zu festigen, ist die Spannungskurve der Übertragung im ersten Tal, und so tut die ARD also vorübergehend genau das Richtige: Sie schaltet zur „Lindenstraße“, wo zuerst geheult und dann angestoßen wird.

Offensiver verweigert sich wohl nur das Weblog der hessischen SPD der hektischen Konkurrenz um die geilsten neuen Zahlen. Spitzenmeldung dort: „Die Löwin für ‚Flocke‘ “ – Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti sorgt sich um Namen für Eisbären. Im NDR geht es ab 18.45 Uhr unter anderem um Trachtenorchester. So viel zur Spannung in Niedersachsen.

Wahlbeobachter Koch

Also Hessen. Als die Hochrechnungen eine Tendenz zu Schwarz-Gelb sehen, interviewt Alois Theisen in der ARD den hessischen FDP-Kandidaten Jörg-Uwe Hahn und sagt: „Es reicht nicht für Schwarz-Gelb, so viel scheint sicher zu sein.“ n-tv hat mit Kabarettistin Lisa Fitz eine Spitzenkandidatin für 1-a-Wahlanalysen im Studio – und die sind keinesfalls schlechter als die von Focus-Chef Helmut Markwort, den das ZDF aus dem Solarium einbestellt hat. Der Ausgewogenheit halber darf Bernd Ulrich von der Zeit Markwort prompt mit einer entgegengesetzten Analyse des Wahlkampfstils in die Parade fahren.

ARD-Reporter Uli Meerkamm müht sich derweil redlich, die Stimmung bei der hessischen SPD im Fußballkatakombenstil zum Emohighlight hochzujazzen. Um 19 Uhr eröffnet Steffen Seibert im ZDF eine Nebenarena und stichelt leise gegen die ARD. „Eine rot-grüne Mehrheit, die ist im Moment eher unwahrscheinlich“, sagt Seibert – also „das, was nicht hier, aber in anderen Sendern schon verkündet wurde.“

Und so ist es ausgerechnet an dem nicht ganz neutralen Wahlbeobachter Roland Koch, um 19.31 Uhr den richtigen Satz zu sagen: Wer am Ende regiere, so Koch, wenn auch kaum ohne Hintergedanken, würden nicht Interviews entscheiden und jetzt müsse man abwarten. Um 20 Uhr benennt Jörg Schönenborn in der ARD dann das einzige bis dahin feststehende Ergebnis aus Hessen: „Die Wahlforscher stoßen an ihre Grenzen.“

Will versus Realität

Um 22 Uhr liegt Ypsilanti knapp vor Koch, und Anne Will fragt: „Hat Andrea Ypsilanti gewonnen oder vor allem Roland Koch verloren?“ – die richtige Frage zum richtigen Zeitpunkt. Koch und seine Politik sind für sie die klaren Verlierer. Die noch fehlenden statistischen Fakten – viele Zeitungen, zu diesem Zeitpunkt bereits in Druck, spüren das Dilemma des Aktualitätsdrucks am nächsten Morgen freilich ebenfalls – ersetzt Will durch Verwirrung, beballert ihre Gäste mit einer Unzahl von Fragen und wechselt permanent die Richtung ihrer Diskussion. Sobald jemand mal auf eine Kernfrage zu sprechen kommen will, wird flugs ein Film eingespielt. Oder der Repräsentant des einfachen Volks auf dem Sofa besucht, der mittlerweile aber so unwichtig geworden ist, dass er bei der einleitenden Vorstellungsrunde übergangen wird.

Ein paar Minuten nach der Ausstrahlung ist Wills Talk von der Realität überholt. ARD-Wahl-Frontmann Jörg Schönenborn verkündet um 23.18 Uhr das vorläufige amtliche Endergebnis: Die CDU liegt mit 36,8 Prozent erstmals an diesem Abend, aber diesmal wirklich, vor der SPD mit 36,7 Prozent. Das ZDF schaltet sich erst leicht verspätet wieder der Hessen-Wahlnacht zu.

Seine Party unter besten Voraussetzungen – was gibt es Geileres als Liveberichterstattung? – hat das Fernsehen da fast schon beendet. Es hat seine Gleichzeitigkeit mit den Ereignissen gefeiert, ist dabei an die Grenzen der Prognose gestoßen, hat aber, im Ganzen, grandiose Wahlpartyatmo vermittelt. „Ich weiß nicht, ob Sie mich hören können“, mikrofont Reporter Uli Meerkamm kurz nach Schließung der Wahllokale live bei der SPD in Wiesbaden – „die Leute“ jedenfalls, weiß er, „sind völlig aus dem Häuschen“. RBB zeigt um 20.15 Uhr „Wolfgang Petry – Das letzte Konzert“, der WDR überträgt aus Köln: „Loss mer singe!“

Was hätte man also am Besten den Abend über tun sollen? Nervös an den Nägeln kauen?