: Zwei Räder und ein Mythos
Mit schmalen Lenkstangen, ohne Bremsen, Leerlauf und Gangschaltung zelebrieren Fixed-Gear-Räder eine athletisch-minimalistische urbane Praxis. Die Visual Research Galerie stellt radikal reduzierte Rennkörper aus Berlin und Los Angeles vor
VON CLEMENS NIEDENTHAL
Das Fahrrad ist ein Zeichenträger auf zwei Rädern. Und ein Gefährt, mit dem man sich buchstäblich in Gefahr begibt, etwa in den toten Winkel eines Sattelschleppers zu geraten. Schon alleine deshalb taugt der Tritt in die Pedale zum Statement, wird das Tretlager zum Widerlager in der urbanen Ordnung. Jeder Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung ist so auch eine subversive Ermächtigung.
Nichts anderes als Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung sind es, die die Visual Research Galerie, ein Zusammenschluss junger Designer, die auch den Kwickshop in der Kastanienallee betreiben, seit vergangenem Freitag ebendort unter dem Stichwort Fixed Gear ausstellt. Die Schau erzählt von einer zeichenstarken Praxis. Vorgestellt wird eine urbane Ästhetik, die sich anschickt, über die Boulevards der Szenebezirke zu radeln. Ein elegantes, entschlacktes Rennrad war ja schon im vergangenen Sommer das Mobilitätsaccessoire distinktionshungriger Mitte-Mädchen. In der VR Galerie verdichten sich diese Accessoires nun zu einer Attitüde. Sie werden zu Vehikeln einer Lebenseinstellung, die weit weg vom flüchtigen Fashion-Statement angesiedelt ist.
Am vorläufigen Ende umfangreicher Recherchen ist eine Ausstellung von Rädern entstanden, die auf Felgenbremsen verzichten. Genauso auf Schutzbleche und Gepäckträger, auf Halogenleuchten und gefederte Sattelstützen. Stattdessen sind die Exponate im kleinen Galerieraum auf das Wesentlichste reduziert. Fixed Gear eben, was wörtlich genommen zunächst einmal bedeutet, dass die Fahrräder in der Tradition klassischer Bahnrennräder weder Gangschaltung, noch Leerlauf oder Rücktrittbremse haben. „Maximal reduction, minimal boundaries – maximale Reduktion, minimale Grenzen“, so ein Credo der Szene, wird da noch deutlicher. Schnell fahren die einen, andere kombinieren die Artistik der Kunstradfahrer mit den Choreografien des Skateboardings. „Die Hypersensibilität für jede Art der reduzierten Gestaltung“ habe ihn an den radikalen Radlern fasziniert, sagt Oliver Spies, einer der Ausstellungsmacher.
„Plötzlich gibt es wieder eine Community auf der Straße, obwohl momentan nur noch über Communitys im Netz geredet wird“, ergänzt Alexander Nolte, dem die Fixed-Gear-Bewegung zuerst in den USA begegnet war.
Gerade dort also, wo man dem Fahrrad als Fortbewegungsmittel traditionell misstraut, war der Stadtraum bereitet für eine symbolisch aufgeladene Fahrradkultur. Schon jetzt gibt es Nike-Turnschuhe, deren Farbgestaltung – ein dunkles Violett etwa, kombiniert mit einem leuchtenden Grün – von den individualisierten Fixed-Gear-Rädern zumindest beeinflusst scheint. Stefano Pedrini fährt mit seinem bordeauxroten Fixed-Gear-Bike vor, stoppt die beschleunigte Fahrt einzig durch eine kurze Gewichtsverlagerung und ein leichtes Querstellen des Hinterrades. Fahrradkörper und Menschenkörper werden ganz eins in diesem Moment. Eine Haltung, eine Attitüde manifestiert sich in einer Körperhaltung, darin liegen Athletik, Erotik, Eleganz. Und elegant ist auch das weiße Rad mit dem verwobenen grafischen Muster, das der seit zwei Jahren in Berlin lebende Grafiker für den kalifornischen Teil der Ausstellung gestaltet hat. Parallel zur Berliner Schau wird „Fixed Gear“ auch in Los Angeles gezeigt.
Früher sei er Skateboard gefahren, erzählt Stefano Pedrini. Während eines Praktikums in New York habe er dann die Fixed-Gear-Szene entdeckt. Und sich auf der Basis eines alten italienischen Rennradrahmens aus den späten Siebzigerjahren sein eigenes Bike gebaut. Ohne Bremsen, ohne Gangschaltung und mit einer Lenkstange so schmal wie die Hüften von Kate Moss, damit man im zähfließenden Großstadtverkehr noch durch die kleinste Lücke passt.
Fahrradkuriere haben diese Art des Lenkers etabliert. Und ihn ganz trefflich „Street Fighter“ getauft. Weil Zeit eben Geld ist und der Stadtraum von Tokio oder New York einer Kampfzone gleicht. Fahrradkuriere sind es auch, die den harten Kern der Fixed-Gear-Bewegung bilden. Oder es verhält sich genau umgekehrt: Wer so vernarrt in sein Rad ist, dass er es mit einer exklusiven Lackierung veredelt und für einen besonders leichten und grazilen Rahmen aus Kohlefaser bis nach Italien oder Japan reist, der macht diese Leidenschaft womöglich zur Lebensaufgabe und zum Broterwerb.
In der Ausstellung erzählt ein auf den ersten Blick unscheinbares, von Aufklebern verkleistertes Rad genau diese Geschichte: Das runtergerockte Mountainbike hat wohl mehr Kilometer auf dem inzwischen gebrochenen Rahmen als die meisten Pkws. Es gehört einem ehemaligen New Yorker Fahrradkurier, der heute Rennräder und mit ihnen die Fixed-Gear-Kultur nach Berlin importiert. Keirin heißt der Laden in der Oberbaumstraße am Schlesischen Tor. Momentan ist dort ein Rahmen der italienischen Marke Colnago ausgestellt. Weltweit gerade einmal elf Stück wurden von der Graffiti-Legende Futura 2000 gestaltet, ein exzentrisches, exklusives Kunstwerk, ein Mythos des beschleunigten Alltags.
„Fixed Gear“ nimmt solche Mythen ernst. Aber die Ausstellung behauptet nicht, Teil von ihnen zu sein. „Wir geben keine Anleitung zum Verstehen der Szene“, sagt Oliver Spies. Und so lustvoll der Galerieraum in der Kastanienallee mit den hyperästhetisierten Oberflächen flirtet – die eloxierten Felgen in metallischen Blautönen, die von jedem überflüssigen Gramm befreiten Rennräder, die schillernden Lackierungen und die aufwendigen Grafiken –, so wenig wirbt die Schau mit der Authentizität des (re-)präsentierten Milieus.
„Fixed Gear“ ist die Ethnografie einer urbanen Ästhetik, ist eine Begeisterung für die Zeichen. Den kapitalen Fehler vieler Ausstellungsprojekte über subkulturelle Praktiken begeht das Team von Visual Research aber gerade nicht: Die Ausstellungsmacher überlassen die Coolness lieber ihren Exponaten. Und kommen selbst weiterhin mit der Straßenbahn in die Galerie.
Kastanienallee 44, bis 17. Februar