die taz vor 10 jahren über rot-grüne träume und den preis der macht :
Wer ist Halo Seibold? Vor zwei Wochen hätten auch Kenner der Bündnisgrünen Mühe gehabt, den Namen richtig einzuordnen. Jetzt kennt die ganze Republik die Frau, die uns nach dem Autofahren auch noch den Urlaub vermiesen will. „Mallorca auf Bezugsschein“, spottete Joschka Fischer über die Forderung, alle fünf Jahre einmal fliegen sei genug, die Halo Seibold publikumswirksam am Samstag vor den Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein unter die Leute brachte. Doch die Nation lachte nicht mit. Ein Sturm der Entrüstung brach über die Grünen herein, das Volk reagierte, als müsste es sich endlich aus langem Leiden unter einer Ökodiktatur befreien und ein für allemal feststellen: bis hierhin und nicht weiter. (…) Seit Gerhard Schröders Triumph in Niedersachsen bieten die Grünen ein Bild des Jammers. Dabei ist die Talsohle noch längst nicht erreicht. Wenn die Bündnisgrünen am 26. April aus dem Landtag von Sachsen-Anhalt geflogen sein werden und auch der letzte Lokaljournalist im Schwarzwald die Erkenntnis verbreitet, dass die Grünen im Osten nie angekommen sind, wird das Ausmaß des Desasters klar sein: Die Partei bangt um ihren Wiedereinzug in den Bundestag. (…) Die Bündnisgrünen wissen noch nicht, was „the price of power“ bedeutet. Jetzt rächt sich, daß es in der Partei im letzten Jahr keine Debatte darüber gegeben hat, was es bedeutet, in der ökonomischen und politischen Situation des Jahres 1998 ernsthaft eine Regierungsbeteiligung anzustreben. (…) Die Mehrheit der Deutschen will vielleicht eine neue Regierung, aber sie will keinen Politikwechsel. Sie will keinen Öko-Schnickschnack, keine Menschenrechtspolitik, die womöglich etwas kostet, keine Experimente, sondern sie will eine möglichst weitgehende soziale Absicherung. Sie will diese Absicherung so dringend, daß Frau Noelle-Neumann schon befürchtet, der Staatssozialismus siegt von hinten durch die Brust ins Auge.
Jürgen Gottschlich, taz vom 28. 3. 1998