: Ein Universum des Wohlklangs
Premiere an der Komischen Oper: Der Intendant Andreas Homoki und der neue Chefdirigent Carl St. Clair haben Giacomo Puccinis Oper „La Bohème“ inszeniert – und zwar so, dass die Stimmen genügend Platz finden, sich zu entfalten
VON NIKLAUS HABLÜTZEL
Die Bohème gibt es nicht mehr, die Giacomo Puccini und sein bewährter Librettist Luigi Illica in dem Roman des Franzosen Henri Murger zu sehen glaubten. Es gab sie wahrscheinlich schon damals, am Ende des 19. Jahrhunderts, nicht wirklich. Das lustige Lotterleben von vier Künstlern war von Anfang an eine Projektion des Bürgers, dem es manchmal etwas eng wurde in der Jacke seiner Wohlanständigkeit. Er wusste, was sich gehört, erlaubte sich aber hin und wieder, von der erotischen Freizügigkeit eines Lebens jenseits des Geldes zu träumen. Heute jedoch ist er selbst eine Fiktion, jener Bürger, der sich wohlig erschrecken lassen darf von der Verletzung seiner Regeln. Moderne Gesellschaften zerfallen in kulturelle Szenen, die um Distinktionsgewinn ringen, und die Begriffe der Bürgerlichkeit und ihres Gegenteils haben ihren Sinn verloren, seit der individualisierte, privatisierte Traum der Freiheit und des Glücks in der einzigen Figur des Popstars seine Erfüllung findet.
Puccini schrieb für ganz andere Stars, die Superstars der Operbühnen des vorletzten Jahrhunderts. Dennoch muss seine Oper auch heute aufgeführt werden. Sie ist ein Meisterwerk, das die menschliche Stimme mit solchem Glanz und solcher Vollendung in Szene setzt, dass man es einmal in seinem Leben gehört haben muss, um zu verstehen, was der Begriff „Gesang“ bedeuten kann. Lockeres Parlando gehört dazu, das sich unversehens löst von der Bedeutung der Worte, innere Kraft gewinnt, und schließlich aufblüht in einer leuchtenden Schönheit des Klangs, der sämtliche Sinne überwältigt, weil er ganz und gar körperlich bleibt. Große Stimmen allerdings sind nötig, um diese Art der Musik über ihre Zeit hinaus am Leben zu erhalten, jene großen Stimmen, die im Ensemble der Komischen Oper eigentlich nicht zu finden sind.
Zwei Gründe also, die dagegen sprechen, Puccinis „Bohème“ in Berlin ausgerechnet an der Komischen Oper aufzuführen: Für das Regietheater, das hier mit viel Erfolg gepflegt wird, gibt der Stoff wenig her. Und die Stimmen, die diesen Mangel wettmachen, können sich die Staatsoper und die Deutsche Oper eher leisten. Trotzdem ist dem Intendanten Andreas Homoki und dem neuen, vom Nationaltheater Weimar abgeworbenen Chefdirigenten Carl St. Clair gelungen, eine zumindest plausible Aufführung auf die Bühne zu bringen.
Gelungen ist es, weil das junge Ensemble, das sich mit Leidenschaft für die Sache und mit großer Musikalität bei Händel, Gluck, Offenbach und auch Mozart bewährt hat, von Puccini herausfordern lässt, ganz spielerisch und entspannt seine physischen Grenzen auszutesten. Elegant und verständnisvoll dirigiert St. Clair das Orchester so, dass niemand überfordert wird. Gewiss könnten die Streicher voller klingen und das Blech runder, aber das macht nichts, weil die Stimmen genügend Platz haben, ihre eigenen Möglichkeiten zu entfalten. Es macht Spaß, ihnen zuzuhören, wie sie es einfach mal versuchen mit diesem Puccini.
Überraschenderweise gelingen Timothy Richards als Rodolphe die hohen Töne, vor allem in den Höhepunkten der Duette mit Brigitte Geller als Mimi, sogar besser als die Dialoge mit seinen Freunden. Die klingen ziemlich blass, aber dann gibt sich Richards augenzwinkernd einen Ruck und wirft sich hinein in den vollen Umfang seines Organs: Es ist nicht gewaltig, aber angenehm ohne Knödelei und Geschrei. Leider flüchtet sich Brigitte Geller oft in ein übermäßiges Vibrato, von dem sie glaubt, es vergrößere das Volumen ihrer Stimme. Ein Irrtum, St. Clair und wohl auch Richards hätten sich bestimmt überreden lassen, sich zurückzuhalten, damit ihr für diese Rolle vielleicht etwas zu schmaler, aber dennoch wohlklingender Sopran nicht untergeht.
Wie gut das geht, führt Christiane Karg als Musette mit ihrer kühlen, ein wenig harten Stimme vor. Auch diese Farbe fügt sich gut ein in Puccinis Universum des Wohlklangs – insgesamt eine „Bohème“ zum Kennenlernen. Man versteht das Geheimnis ihrer Schönheitssucht, manchmal ist es ganz unverhüllt zu hören, dann wieder nur zu ahnen. Aber nichts stört, vor allem kein teuer bezahlter Star, der gerade indisponiert ist und deshalb seine Partner über den Haufen schreit.
Homoki weiß gut, was er an diesem Ensemble hat. Er lässt es singen und räumt ihm dafür die Bühne leer. Chor und Solisten füllen den Raum, dazu ein gewaltiger Weihnachtsbaum, der in allen Farben glitzern kann. So ist immer Bewegung und Farbe zu sehen, manchmal schneit es ein bisschen. Von der Fiktion der Bohème sind nur vier Schnösel von heute geblieben, die den Aufstieg proben. Sie verlieben sich auch mal in die Unterschicht, in die todkranke Mimi zum Beispiel oder die kessere Musette. Am Ende sind sie reich geworden und irgendwas wichtiges in den Medien, dummerweise stören die (fast) vergessenen Frauen die Party im Nobelrestaurant. Die eine stirbt, die andere nicht, halb traurig und ganz lieblos ist deshalb diese Welt der Lebenskünstler – Homoki hat schon recht: Außer Gesang war da nie mehr an Bedeutung und psychologischem Tiefsinn.
Nächste Aufführungen: 11., 15. und 25. April