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Archiv-Artikel

Ohne Bodenhaftung

Heute beginnt „Verzaubert“, das schwullesbische Filmfestival. Unbedingt sehenswert im umfangreichen Programm sind „Mala Noche“ und „Paranoid Park“ – ein alter und ein ganz neuer Film von Gus Van Sant, der wieder in Portland, Oregon, spielt

Die Perspektive ist explizit schwul, macht aber daraus kein Politikum Alex’ Eintauchen in die Welt des Paranoid Park wird als eine Art Initiation inszeniert

VON ESTHER BUSS

Zwischen Gus Van Sants „Mala Noche“ und „Paranoid Park“ liegen mehr als 20 Jahre. Ein langer Weg, der von einer zyklischen Bewegung bestimmt ist – ebenso wie die Narration der Filme selbst mit ihren Ellipsen, Wiederholungen und chronologischen Verschiebungen. Nach einem kommerziell erfolgreichen Abstecher ins Hollywoodkino kehrte der Regisseur vor einigen Jahren mit seiner Trilogie des Todes wieder zu den Anfängen eines unabhängig produzierten Autorenkinos zurück – und nun mit „Paranoid Park“ auch in seine Heimatstadt Portland in Oregon, wo seine ersten Filme entstanden sind, angefangen mit dem Debüt „Mala Noche“. Formal könnten beide Filme kaum unterschiedlicher sein, dennoch haben sie vieles gemeinsam, etwa die auratische Aufladung bestimmter Orte (die nächtlichen Straßen, ein Skaterpark) und nicht zuletzt ihre männlichen Außenseiterfiguren, deren unerfülltes Begehren sie durch die Geschichte treibt.

„Mala Noche“ (1985), die Verfilmung einer Erzählung des Underground-Dichters Walt Curtis, gilt als wichtiger Bezugspunkt des New Queer Cinema der Neunzigerjahre. Die Perspektive ist explizit schwul, macht aber daraus kein Politikum. Walt (Tim Streeter), ein leicht abgerissener Betreiber eines kleinen Ladens, verliebt sich in Johnny, einen mexikanischen Jungen, der gemeinsam mit seinem Freund Pepper als blinder Passagier auf einem Frachtzug in die Stadt gekommen ist. Doch der lange und strapaziöse Weg liegt nur scheinbar hinter ihnen, das ruhelose Unterwegssein setzt sich in „Mala Noche“ als Grundstimmung fort. Da Walt von Johnny nicht bekommt, was er will, nämlich Sex, schläft er stattdessen mit Pepper. Und er spielt seine privilegierte Position als gönnerhafter „Gringo“ aus – eine instabile Tauschökonomie bestimmt das von latenter Homophobie und Rassismus durchsetzte Verhältnis des ungleichen Dreiergespanns. Steile Kamerawinkel, extreme Close-ups und harte Schwarzweißkontraste verleihen dem Film einen expressionistischen Neo-Noir-Look, den man bei Van Sant ebenso wenig vermuten würde wie die in Beat-Lyrik-Manier vorgetragene Off-Erzählung der Hauptfigur.

Eine unliterarische Off-Stimme gibt es dagegen in „Paranoid Park“ (2007). Alex (Gabe Nevins), ein junger Skater, schreibt einen Brief an sich selbst – es ist die rein faktische Rekonstruktion einer traumatischen Samstagnacht, die mit einem durch ihn verursachten tödlichen Unfall endete. Das nächtliche Ereignis wird in mehreren Anläufen angesteuert, ganz so, als führten Erinnerung und Verdrängung einen stillen Kampf miteinander. Dabei geht der gewöhnliche Adoleszenzalltag einfach weiter: die bevorstehende Scheidung der Eltern, das Desinteresse für seine schöne Cheerleader-Freundin, das Unbeteiligtsein beim Sex. Inmitten dieser undramatisch geschilderten Erlebnisse erhebt sich das geradezu mythische Zentrum des Films, ein illegal errichteter Skaterpark unter einer Brücke. Dieser ebenso anziehende wie unheimliche Ort ist ein autonomes Territorium für Drop-outs, für „wilde“ Skater. Wenn diese sich auf den Pipes schwerelos in die Luft erheben, verwandelt sich das unwirtliche Areal in ein Zauberland.

Alex’ Eintauchen in die Welt des Paranoid Park wird als eine Art Initiation inszeniert, die unterschwellig erotisch aufgeladen ist. Die verhängnisvolle Einladung eines Skaters, auf einem fahrenden Frachtzug zu „surfen“, gleicht einer Verführung.

Auch wenn die Geschichte durch Alex erzählt wird, eröffnet der Film keinen Einblick in sein subjektives Erleben. Die Erzählstimme ist vielmehr eines von mehreren Elementen einer filmischen Collage, zu der auch die auf Super-8 gedrehten Skaterszenen gehören, Zeitlupen und Zeitraffer sowie der eher unorthodox zusammengestellte Soundtrack.

Häufig arbeitet die Musik sogar vehement gegen das Bild, etwa wenn Alex’ Gang durch die Schulflure zum Verhör von Billy Swans „I can Help“ begleitet wird. Sosehr sich die Kamera auch der Figur annähert, sie dringt nicht zu ihrem Innern durch – Alex’ porzellanartiges Gesicht bleibt bis zuletzt eine Projektionsfläche, gleichzeitig voller Bedeutung und Leere. Auf diese Weise wird Adoleszenz in „Paranoid Park“ als ein Zustand der Abgetrenntheit und letztlich auch Autonomie erzählt. Für Alex besteht die Schwierigkeit weniger in der Verarbeitung seiner Schuld als darin, die Verbindung zur Außenwelt überhaupt herzustellen. Dieses Begehren realisiert sich allein beim Skaten; ausgerechnet dann, wenn die Bodenhaftung verloren geht.

Programm unter: www.verzaubertfilmfest.com