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Archiv-Artikel

die taz vor 12 jahren Als Fischer von Prodi träumte

Wir alle lieben Italien, besonders wir Linken. Unbeirrt aller widrigen Winde folgen wir dem Stern Antonio Gramscis, kämpfen nach dem Vorbild des Meisters um gesellschaftliche Hegemonie und halten tapfer am Primat der Politik fest. Auf die Idee, mit dem modernen „Principe“ Gramscis sei eine leibhaftige Person gemeint, ist allerdings noch niemand von uns gekommen. Hier handelt es sich um einen Einfall des Grünen Joschka Fischer, den die Sehnsucht nach den Olivenbäumen offensichtlich in den Wahnsinn getrieben hat.

Fischer empfiehlt uns, dem Vorbild des italienischen Wahlbündnisses „Ulive“ nachzueifern. Jene Koalition rund um Italiens Linksdemokraten hatte den Bologneser Wirtschaftsprofessor Romano Prodi zum Kandidaten für das Amt des Premiers gekürt. Wozu aber wähle ich seit 1980 die Grünen, wenn mir jetzt versichert wird, das politische Personal von Rot-Grün sei nicht in der Lage, bei Wahlen zu gewinnen? Eine „unabhängige Persönlichkeit von hoher Wirtschaftskompetenz, die weit in die bürgerliche Mitte ausstrahlt“, muß nach Joschka Fischer her, um die Vertrauenslücke von Rot-Grün zu schließen. Mag die Kandidatur Romani Prodis auch einer, wenngleich verzweifelten Logik gehorcht haben, für Deutschland ist der Ruf nach dem parteiunabhängigen Fachmann das reine, antidemokratische Gift. Es stammt aus der Waffenkammer der Ultrakonservativen und hat schon einmal – am Ausgang der Weimarer Politik – seine unheilvolle Wirkung getan. Joschka Fischer, der sich mit so viel Talent dem Studium der Historie hingibt, sollte möglichst bald darüber nachdenken.

Christian Semler, taz 30. 4. 1996