: Wutbürger in Vorfreude
Vor dem Staatsgerichtshof streiten die „Bürger in Wut“ für eine Neuauflage der Bürgerschaftswahl im Bereich Bremerhaven. Ausgang offen – aber den Gerichtsvorsitzenden interessieren die Bedingungen für eine Neuwahl in nur einem Stimmbezirk
Bremen ist zwar nur ein kleines Bundesland. Aber es hat nicht nur etliche Wahlbezirke sondern auch – anders zum Beispiel als Hamburg – zwei eigene Wahlkreise oder -bereiche: einen pro Stadt. In beiden gibt es unabhängig voneinander Fünf-Prozent-Hürden: So sind 15 der 83 Bürgerschaftsmandate dem Wahlbereich Bremerhaven zugedacht. Entsprechend werden diese Sitze auch unter denjenigen Listen aufgeteilt, die in Fisch-Town mindestens fünf Prozent erreicht haben. Die übrigen 68 gehen an die Stadt-Bremer. Bei der Landtagswahl am 13. Mai 2007 entfielen in Bremerhaven 2.216 von 44.336 Stimmen auf „Bürger in Wut“ – exakt 4.9981956 Prozent. Eine einzelne Stimme hat bei gleich bleibender Beteiligung den Wert von 0,0022555034 Prozent. Dann würde es den „Bürgern in Wut“ in Eckernfeld reichen, 102 Wähler zu mobilisieren, um einen Einzelabgeordneten nach Bremen zu entsenden. BES
VON BENNO SCHIRRMEISTER
Die Bremer Bürgerschaft wird voraussichtlich noch einmal gewählt. Nicht im ganzen Kleinstland, sondern nur in Bremerhaven – und auch dort wohl nur in einem Bezirk. Ein entsprechendes Urteil hat der Bremer Staatsgerichtshof am Freitag zwar noch nicht gefällt. Allerdings: Beharrlich und detailliert befragte der Vorsitzende Alfred Rinken den Landeswahlleiter nach den Bedingungen und dem benötigten zeitlichen Vorlauf für eine Neuwahl im Bezirk Eckernfeld.
„Wir müssten ein neues Wählerverzeichnis anlegen“, sagt Nicolai Rosin, Anwalt des Landeswahlleiters. Das hat laut Gesetz 35 Tage vor dem Termin vorzuliegen. Hinzu kommen weitere Formalia – „damit lägen wir bei 49 Tagen plus x“, sagt Rosin.
Rinken bedankt sich. Und schließt die Verhandlung. Da ist es exakt 9.35 Uhr, um Punkt 9 Uhr waren die sieben Staatsrichter in den nüchternen Saal geschritten. Es war bereits der zweite Verhandlungstag zur Wahlbeschwerde der Liste „Bürger in Wut“, angeführt von Jan Timke, der früher einmal Landesvorsitzender der Schill-Partei war, tagsüber am Berliner Ostbahnhof als Bundespolizist tätig ist und seinen Lebensmittelpunkt doch in Bremerhaven hat.
Als Schill-Kandidat für die Bremer Bürgerschaft war Timke 2003 gescheitert – zunächst noch knapp bei der Wahl, dann mit Pauken und Trompeten bei der Anfechtung: Damals fühlte man sich vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht ausreichend beachtet. Zu Unrecht, wie der Staatsgerichtshof im Herbst 2004 dann konstatierte.
Bei der juristischen Nachbereitung der Landtagswahl 2007 hat er nun bessere Karten: Einmal, weil den Wutbürgern zum Bürgerschaftsmandat für ihren Spitzenkandidaten Timke exakt 0,002 Prozent fehlten – in Worten: eine Stimme. Wodurch fast jede Abweichung vom gesetzlich exakt durchgetakteten Auszählungsverfahren Mandats-Relevanz erlangt. Das ist Bedingung für eine richterliche Neuwahl-Entscheidung.
Zum Anderen: Es gab in Bremerhaven Unregelmäßigkeiten. Grobe sogar. Zwar hatte der Staatsgerichtshof nach dem ersten Verhandlungstag Anfang April eine beaufsichtigte Neuzählung in zwei Wahlbezirken angeordnet. Und die hatte keine nennenswerten Anomalien zu Tage gefördert. Aber mindestens die Geschichte in Eckernfeld war nach den Worten des Bremer Wahlrechtsexperten Wilko Zicht „schon relativ ungewöhnlich“.
In Eckernfeld war nach Schließung des Wahllokals „der Wurm drin“, so hatte das die ehrenamtliche Vorsteherin schon im November vor dem – politisch besetzten – Wahlprüfungsgericht ausgesagt. Dann fehlten 13 Stimmen. Mehrfach habe man neu gezählt, immer sei die gleiche Differenz zu den Häkchen auf der Liste aufgetreten. Der Computer nahm das Auszählungs-Resultat nicht an. Irgendwann hat sie die Unterlagen in den Rucksack gepackt, sich aufs Rad geschwungen und ist durch die Nacht zum Stadthaus gefahren. Allein und ohne Zeugen. Eine Panikreaktion, klar, und sicher ohne böse Absicht. Aber die Möglichkeit zur Manipulation hat bestanden. Das ist entscheidend. „Das Wahlamt“, sagt Zicht, hätte „zusätzliche Kräfte dorthin schicken müssen.“
Über die Tendenz des Verhandlungsverlaufs gab es keinen Streit. Sichtlich erfreut sprach Timke seine Einschätzung in die Fernsehkameras: Ja, davon gehe er jetzt aus, dass in dem einen Bezirk neu gewählt werde. Und auch Rosin mochte nicht widersprechen: „Wenn das Gericht das anordnet, wird das gemacht.“ Und dass der Landeswahlleiter keinesfalls irgendetwas blockieren werde. „Alles was wir wollen“, so Rosin, „ist ein transparentes Verfahren.“ Aber kann denn die Neuwahl in nur einem Bezirk das erfüllen? „Das müssen sich die Richter und Rechtsphilosophen fragen.“
Deutlichere Worte zu dem Szenario findet Zicht: „Ich fände eine solche Entscheidung einigermaßen tragisch“, sagt er. „Der Nachteil wäre, dass diejenigen, die dort wählen, die Ergebnisse der anderen bereits kennen.“ Ein Wissensvorsprung, durch den sie den Erfolgswert ihrer Stimme erhöhen können. Wie? Indem sie das Kreuzchen bei Parteien machen, denen nur wenige Stimmen, oder auch nur eine einzige zum Sprung ins Parlament fehlt.
Ein vergleichbarer Vorgang hatte bei der Bundestagswahl 2005 Aufsehen erregt: Eine Direktkandidatin des Wahlkreises Dresden I war kurz vor dem Stichtag gestorben. Weshalb die BewohnerInnen des Stadtteils Prohlis 14 Tage später abstimmten als die übrige Republik. Es profitierten: Ein als Außenseiter angetretene CDU-Kandidat. Und die FDP. In der Frankfurter Allgemeinen war von einem „Ergebnis mit Geschmäckle“ die Rede – wegen des taktischen Wahlverhaltens.
Im Wahlbezirk Eckernfeld würde den „Bürgern in Wut“ ein Ergebnis knapp unter fünf Prozent reichen. „Das“, sagt Zicht, „dürfte zu einem Selbstläufer für Timke werden.“