: Hauptstadt der Kleinstädte
Von wegen „Züri brännt“. Auch zur Alpen-Europameisterschaft wird in Zürich das stets bedächtige Leben seinen gewohnt langsamen Gang nehmen – die Besucher aus den Fußballhochdrucknationen werden das nicht ändern
Mit Fußballherzblut porträtieren unsere Autoren vor Ort die acht Städte, Spielstätten und Events rund um den Ball in Österreich und der Schweiz zur Europameisterschaft 2008.
Heute: Zürich, Klagenfurt, Wien. Bereits erschienen: Basel, Innsbruck, Salzburg, Genf, Bern.
VON MICHAEL RINGEL
Wenn eine Stadt so viele Feinde hat, muss sie ein ehrenwerter Ort sein. „Zürich, das ist doch tiefste Provinz, die sich für eine Weltmetropole hält“, knurrt der eine Zürich-Hasser, und ein anderer murrt: „Zürich ist so schrecklich sauber, auf den Straßen liegt nicht mal eine Zigarettenkippe.“ Gleich kommt einem James Joyce in den Sinn, der schon über Zürich spottete, dass „man in der Bahnhofsstraße die Minestrone vom Boden löffeln könne.“
Bei so viel Feinden ist es auch kein Wunder, dass die Züricher mit den Vorurteilen über sich und ihre Stadt kokettieren. Wie alle Bewohner schöner und reicher Orte behaupten sie gern das Gegenteil. In Wirklichkeit nämlich, erklären sie jedem Besucher, seien die Züricher arm. Sie hätten schließlich nichts als „die gute Luft, das saubere Wasser und die hohen Berge“. Luft, Wasser, Erde? Und was ist mit dem vierten Element?, fragt man sich. Das Feuer haben die Züricher tatsächlich nicht erfunden. Am Anfang war eher die Feuerversicherung. Züricher sind langsam, gemächlich und bedächtig. Beispiel: Iris. Die einem die Vorzüge Zürichs präsentiert. Dabei legt sie vorsichtig den Kopf auf die Seite, lässt die Augen umherrollen, als ob ihr von irgendeiner Seite Gefahr droht. Dann wälzt sie mit ihren Sprechwerkzeugen die Buchstaben im Mund herum, damit auch ja kein Wort zu schnell hervorgestoßen wird. „Schauspielhaus“ klingt dann wie „Schaahuuhschpiehlhaahuus“, und in der selben Zeit hätte ein Berliner bereits Goethes „Faust“ vorgetragen. „Faust I“ und „Faust II“.
Dabei sind die Züricher für Schweizer Verhältnisse noch harmlos, heißt es. Schlimmer noch seien die Berner, die mit ihrem Zeitlupentempo jeden normal getakteten Menschen in den Wahnsinn treiben könnten. Aber es hat ja auch sein Gutes, dass dem Züricher jedes Feuer fehlt. Von der Schweiz sind noch nie Eroberungskriege ausgegangen, und Zürich wurde in seiner Geschichte niemals zerstört. Selbst von Feuersbrünsten und Großbränden wurde die Stadt zwischen Limmat und Sihl weitgehend verschont.
Kaum einer ist zu Schaden gekommen, wenn man die paar historischen Gestalten vernachlässigt, die im ach so beschaulichen Zürich einst bei Judenpogromen ums Leben kamen, wie die Stadtführerin gewohnt leidenschaftslos bekennt, als ob sie von einem Auffahrunfall berichtet. Heute jedenfalls seien die Beziehungen zu den wenigen in Zürich heimischen Juden sehr gut.
Hinter der feinen Fassade Zürichs gab es eben immer auch eine dunkle Seite mit zwielichtigen Figuren wie Johann Caspar Lavater, der im 18. Jahrhundert Pastor an der Peterskirche war und ein Star seiner Zeit, weil er in seinem Werk über die „Menschenkenntnis“ behauptete, dass man von der Physignomie eines Menschen auf seinen Charakter schließen könne. So wurde der „Menschenfreund“ Lavater einer der Vorväter des Faschismus. Heute hat die Rolle des Bösen, neben all den Diktatoren und ähnlichen Schurken, die in Zürich ihre geraubten Vermögen deponieren und verprassen, zum Beispiel Joseph Blatter, der als Fifa-Führer in seinem fünf Stockwerke tief in die Erde gebauten Bunker am Zürichberg die Welt mindestens des Fußballs zu beherrschen versucht.
Doch es gibt auch die guten Züricher, die aus der Geschichte heraus ebenso allgegenwärtig sind wie die schlechten: Dichter wie Gottfried Keller oder Georg Büchner, deren Geburts- bzw. Wohnhäuser in der Altstadt präsent sind. Dort existiert auch immer noch das legendäre Cabaret Voltaire, in dem der surrealistische Nonsens des Dada das Licht der Kunstwelt erblickte, und das Kabarett „Pfeffermühle“, das zeitweise die Mann-Tochter Erika bespielte, während ihr Übervater Thomas genau wie James Joyce in Zürich seine letzten Lebensjahre verbrachte.
In der verwinkelten Altstadt liegt auch das Wohnhaus Lenins, von dem gern die Anekdote erzählt wird, dass er bei seiner überstürzten Abreise zur Novemberrevolution nach Russland vergaß, sein Bankkonto aufzulösen. Fünf Franken und ein paar Rappen sollen angeblich noch auf dem Konto gebucht sein. Wie hoch die Summe heute durch die angefallenen Zinsen ist, weiß niemand – es sei denn die Züricher Banker, die stets ihren Schnitt machen. So sind sie schließlich reich geworden, spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich viele sogenannte nachrichtenlose Vermögen ihren meist jüdischen Besitzern nicht mehr zuordnen ließen.
Doch über Geld redet der Züricher nicht gern, das hat er lieber, auch um an der Vervollkommnung der vier, nein, drei Grundelemente seiner Stadt zu arbeiten: Sauberkeit, Reinheit, Fleckenlosigkeit. Stolz werden dann die wahrlich schönen 22 Flussbäder aufgelistet, deren reines Wasser aus den beiden Flüssen Limmat und Sihl gespeist wird. Diese Bäder sind tatsächlich wunderschön, und das Bezauberndste ist das „Frauenbad“ am Stadthausquai. Erst ab 18 Uhr ist es Männern erlaubt, die Schuhe auszuziehen und das Bad, das sich jetzt zu einer Sommernachtsbar wandelt, zu betreten.
Hoch über der sauberen Stadt liegt der Üetliberg. Vom Aussichtsturm auf der Spitze aus kann man besonders das nächtliche Zürich bewundern. Um auf den 870 Meter hoch gelegenen Hausberg der Züricher zu gelangen, empfiehlt es sich allerdings, die Üetlibergbahn nutzen. Im Winter liegt der Gipfel oft über der Züricher Hochnebeldecke, dann zeigen unten am Fuße des Berges Schilder an den Trambahnen an, ob der „Uetliberg hell“ ist.
In die Erde hineingegraben dagegen ist das extra für die Europameisterschaft neu errichtete Stadion Letzigrund. Es wird auch „die Hochzeitstorte“ genannt – wegen der kerzenartig angeordneten 31 Flutlichtmasten. Das ist dann aber auch das einzige Feuer, das im Stadion brennt. Denn unter dem luftigen Holzdach kann sich nicht allzu viel Ekstase entwickeln. Das 30.000 Zuschauer fassende Letzigrund-Stadion gilt als Stimmungstod, und es wird sich zeigen, ob es beim ersten großen Spitzenspiel der EM, am 17. Juni bei der Partie Frankreich gegen Italien, anders zugeht als an Tagen, da der FC Zürich im Stadtderby gegen die Grashoppers spielt und aus der heimischen Südkurve des FC lediglich lauwarme Wellen der Begeisterung ins Rund schwappen. Durch die offene Bauweise kann man selbst von der Straße hinterm Stadion aus dem Geschehen auf dem Rasen zuschauen.
Anreise: Von Berlin oder Frankfurt/Main aus zum Beispiel mit Swiss. Per Bahn: Von Freiburg fährt alle Stunde ein ICE.
Nahverkehr: Während der EM-Wochen fahren die Trams und Busse bis spät in die Nacht.
Essen, Trinken, Ausgehen: Mit wunderschönem Blick über Zürich: das Restaurant Uto Kulm auf dem 871 Meter hohen Üetliberg. Etwas ganz anderes ist das Les Halles in Zürich West, dem neuerdings angesagten Ausgehviertel. Ein hemdsärmliges Lokal plus kleinem Lebensmittelgeschäft. Essen und Einkaufen bis tief in die Nacht. Für den größeren Geldbeutel die Gnüsserei in der alten Gießereihalle/Puls 5. Spitzenküche in einer Industriehalle. Danach entweder in die Bar Steinfels oder in die Nietturmbar. Und zum Absacker ins Odéon am Limmatquai 2. Eine Bar im Jugendstil, in der angeblich schon Lenin verkehrte.
Fanmeile: Die zentrale Public-Viewing-Zone ist am Zürichsee. Eine Großleinwand auf der Bellevue Seebühne und mehrere weitere Großbildschirme sollen 60.000 Zuschauern ermöglichen, die Spiele live zu verfolgen. An Spieltagen gibt es einen „Walk of Fans“ zwischen Stadion, Hauptbahnhof und den Public-Viewing-Bereichen.
Unbedingtes Muss: die Confiserie Sprüngli am Paradeplatz, das Paradies aller Schokoladenfreunde. Vorher jedoch dringend Portemonnaie leeren und Kreditkarte sperren lassen! MIR
Schlafen: www.sleep-in.ch Infos: euro.zuerich.com
Eine Offenheit, die dem Züricher selbst nicht ganz geheuer ist. Längst hat sich auch ein leichtes Unbehagen in der „Hauptstadt der Kleinstädte“ ausgebreitet. Genau weiß niemand in dem 370.000-Seelen-Dorf, was da eigentlich auf einen zukommt an den vier Züricher Spieltagen der Alpen-Europameisterschaft – besonders am 17. Juni, wenn mit den Fans Italiens und Frankreichs gleich zwei führende Fußballbluthochdrucknationen aufeinandertreffen. Erwartet werden an diesem Tag mindestens 100.000 Besucher aus den Nachbarländern. Zwar gibt man sich im wahrsten Sinne des Wortes gewappnet für alle Sicherheitsfälle, und die Züricher Polizei gilt nicht gerade als sanfte Truppe, aber bei dem Gedanken, welch große Menge durch die Fanmeile entlang der Limmat und über den Walk of Fans vom Stadion bis in die Public-Viewing-Zonen strömen wird, ist dem Züricher schon etwas schwummrig.
Aus Übungszwecken testen die Züricher deshalb seit einigen Jahren ihren Umgang mit größeren Menschenmengen und veranstalten nach Berliner Vorbild eine „Street Parade“, die „farbigste, schönste und größte Technoveranstaltung der Welt“, wie es in der Eigenwerbung heißt. Und selbst die Diskussion um die in den vergangenen Jahren massenhaft in die Schweiz eingewanderten Deutschen scheint inzwischen auf einem Stand angelangt zu sein, dass man es als Gewinn betrachtet, wenn gut ausgebildete Ausländer den Schweizern in manchen Bereichen ein wenig auf die Sprünge helfen.
Apropos Sprünge. Am Paradeplatz offenbart sich endlich, warum der Züricher in Wahrheit so unterkühlt ist. Mitten in der Innenstadt, gegenüber den großen Bankhäusern, in denen all die undurchsichtigen Vermögen liegen, befindet sich die „Confiserie Sprüngli“. Das „Sprüngli“ ist die eigentliche Zentrale der Macht in Zürich und eines der besten Schokoladenhäuser der Welt. Jede erhöhte Temperatur würde seine Schätze schmelzen lassen. In diesem Paradies für Schokoladenfreunde passt sich der Besucher endgültig dem Züricher Tempo an und schlendert gemessenen Schrittes durch die kühlen Räume mit all ihren verlockenden Köstlichkeiten, die den Einkaufskorb peu à peu füllen, bis sich die Kreditkarte vor Entsetzen biegt. Billig ist Zürich wahrlich nicht.
Wenn man dann auch noch auf dem Flughafen im neugerichteten Showroom der Mutterfirma Lindt dem hauseigenen Chocolatier bei der Herstellung handgemachter Igelpralinen zuschaut und am Sonntagnachmittag satte 15 Stück isst und, bepackt mit großen Tüten voller Pralines und Schokoladentafeln, den Weg zum Terminal antritt, dann muss man sich schon ein wenig Sorgen machen, ob das Flugzeug überhaupt noch abheben kann. Doch mit vollem Schub der Triebwerke gelingt es zu guter Letzt dem Piloten, die Maschine von der Startbahn hochzuziehen. Und im Bauch des Flugzeugs freut sich der wahrscheinlich schwerste Schokoschmuggler der Welt auf süße Wochen daheim.