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Archiv-Artikel

Alles sauer, oder was?

Die Übersäuerung des Körpers wird für zahlreiche Krankheiten verantwortlich gemacht. Doch wissenschaftliche Belege dafür sind Mangelware

„Übersäuerung: Die stille Gefahr“ – Bücher zum Säure-Basen-Gleichgewicht gehören derzeit zu den Bestsellern. Einige ihrer Autoren behaupten, dass zwei Drittel von uns chronisch übersäuert seien. Neben Diäten sollen basische Salze dagegen helfen können, die deswegen in den Apotheken auch schon zum Standardsortiment gehören. Doch was ist wirklich dran an der „Übersäuerungstheorie“?

Als gesichert gilt, dass der optimale ph-Wert des Bluts zwischen 7,38 und 7,42 liegt, also im leicht basischen Bereich. Überschüssige Säuren – meistens handelt es sich um Kohlensäure – wird im Körper an Bicarbonate gebunden und über Lungen und Nieren entfernt.

„Die Kapazität dieser drei Systeme ist beim gesunden Erwachsenen so hoch, dass auch einseitige und extreme Nahrungseinflüsse ausgeglichen werden“, erklärt Eva Unterberger vom Verband der Ernährungswissenschaftler Österreichs. Beim Abbau bestimmter Eiweiße aus tierischen Lebensmitteln entstünden zwar größere Säuremengen, doch die wären für den gesunden Menschen kein Problem. Allein die Niere könne täglich Säuremengen ausscheiden, „die theoretisch bei der Verdauung von fast 2,5 Kilogramm Fleisch gebildet werden“, so Unterberger.

Ab dem 40.Lebensjahr nimmt jedoch die Leistungsfähigkeit der Nieren deutlich ab. Außerdem tragen heute neben Fleisch auch Cola, Schmelzkäse und andere Nahrungsmittel mit säurebildenden Phosphorsalzen zur Säurelast bei. Dadurch kann die Pufferkapazität des Blutes derart überfordert werden, dass der Körper, als Ersatzpuffer, organische Salze aus den Knochen abziehen muss. „Dies kann zu einer negativen Calciumbilanz führen und das Osteoporoserisiko erhöhen“, warnt Professor Andreas Hahn von der Uni Hannover.

Dass dieses Problem nicht nur theoretisch, sondern auch real ist, zeigen Studien, die bei Cola-Trinkern besonders hohe Knochenschwundraten gefunden haben. Das Dortmunder Forschungsinstitut für Kinderernährung diagnostizierte bei Jugendlichen mit säurelastigem Speiseplan eine schwache Entwicklung der Unterarmknochen.

Alternativmediziner betonen außerdem, dass auch das Bindegewebe beim Säure-Basen-Haushalt eine wichtige Rolle spielt. Es besteht im Wesentlichen aus Schwefelverbindungen, die gemäß der „Übersäuerungslehre“ auch als Säurespeicher fungieren. Dies ist einerseits gut für uns, weil dadurch der Körper entsäuert wird, andererseits aber schlecht fürs Bindegewebe, das an Elastizität verliert. In der Folge können diverse Erkrankungen auftreten, insbesondere rheumatische Beschwerden. Hahn hält diese Theorie durchaus für plausibel, „allerdings existieren bislang keine naturwissenschaftlichen Beweise dafür“.

Einschlägige Bücher machen die Übersäuerung für die unterschiedlichsten Krankheiten verantwortlich. Belege dafür sind in der Regel Fehlanzeige. Zu denken gibt auch, dass man sich unter Anhängern der Übersäuerungslehre nicht einig ist, welche Lebensmittel eigentlich sauer sind. So wird Fabrikzucker mal als säurebildend, mal als neutral eingestuft. JÖRG ZITTLAU