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Archiv-Artikel

Zwischen 90.000 Inseln

Die große Schärenregion zwischen Stockholm und Turku bietet Reisenden alles: mondäne Seebäder, einsame Inseln und Natur ohne Ende. Aber bislang sind die meisten Tourismusdienstleister noch Einzelkämpfer

BIER, CIDRE, ÅLVADOS

„Scandinavian Islands“ bezeichnet die lose zusammenhängenden Schärengebiete zwischen Schweden und Finnland rund um Åland. Zu erreichen sind sie über Stockholm, Helsinki oder Turku. Von dort aus starten neben kleineren Fähren und Wassertaxis auch die großen Linien Viking Line und Silja Line (www.tallinksilja.com oder www.skandinavische-reiseagentur.com). Sie verbinden die drei Länder miteinander und erlauben auch grenzübergreifende Touren. Zwischen den Schären kann man sich wunderbar mit Wassertaxis, überall zu mietenden Booten oder Kanus bewegen, auf den Inseln auch sehr gut mit dem Fahrrad. Infos: www.scandinavianislands.com www.varmdo.se (Schweden) www.visitaland.com (Åland) www.turkutouring.fi (Finnland) Lokale Spezialitäten: Die Stallhagen Bryggeri in Godby (www.stallhagen.com), das ist die einzige Brauerei auf den Inseln. Sie ist mit einem kleinen Pub ausgestattet, in dem man die zehn verschiedenen Produkte auch gleich testen kann. Am stärksten haut mit 6,8 Prozent Stallhagen Påskebrygd rein. Ähnlich verhält es sich mit dem Tjudö Vingård, der ganz in der Nähe liegt und die erste Privatbrennerei nach der Prohibition ist, die in Finnland zeitgleich mit der US-amerikanischen stattfand. Oberhalb der Apfelplantagen, die mit 10.000 Bäumen die größten in ganz Finnland sind, liegt der Hof, auf dem aus den Früchten neben Apfelwein auch Apfelbranntwein hergestellt wird. Er wird unter dem Namen Ålvados angeboten – eine Ableitung von Calvados, wie sich nur Cidrebrände aus der Normandie nennen dürfen.

VON BEATE WILLMS

Erst ist es nur ein kaum merkliches Ruckeln. Die Spitze der Angelrute zittert. Ist es Einbildung? Oder hat wirklich einer angebissen? Dann zieht es an der Schnur, zuckt, die Rute biegt sich. Da ist er, der erste Fisch. Juchhu! Hurra! Was nun? Wer hätte gedacht, dass Angeln so aufregend ist? Der zappelnde Barsch muss irgendwie aus dem Meer geholt werden. Uff. Dann übernimmt Ulf Rundberg. Mit einem Griff zieht der Fischer dem Tier den Haken aus dem Maul und lässt es in ein wassergefülltes Becken fallen. Auch den tödlichen Schlag auf den Kopf will er lieber selbst ausführen. „Die Fische sollen nicht leiden“, sagt er später in seinem Bootshaus am Strand. Geübt schnappt er die toten Barsche, nimmt sie aus und filetiert sie auch auf Wunsch.

Fischer ist Rundbergs Hauptberuf. Im Nebenjob schippert er Besucher zwischen den Schären hindurch zu fischreichen Gründen – oder auch einfach nur von Insel zu Insel. Denn zu sehen gibt es hier genug, auch ohne dass man sich das Abendessen selbst fangen muss.

Rundberg lebt auf Åland, dem autonomen Inselstaat am Eingang des Bottnischen Meerbusens. Åland bedeutet Wasserland. Und tatsächlich ist das Gebiet zwischen Schweden und Finnland eine wirre Ansammlung von gut 6.500 Schären, das sind kleine Inseln, die über die Jahrtausende vom Inlandeis abgeschliffen wurden und wie Rundhöcker oder Rücken von Walen aus dem Meer ragen. Nur die Hauptinsel ist so groß, dass eine ganze Ortschaft, die Hauptstadt Mariehamn, darauf Platz findet. Lediglich auf 65 Inseln leben überhaupt Menschen. Von den meisten sieht man nicht mehr als ein flaches Stück Grün mit buckligen grauen Felsen. Aber auch manche der bewohnten sind so klein, dass gerade mal eines der typisch skandinavischen roten Holzhäuser mit den weißen Fensterumrahmungen und ein Bootssteg darauf passen. Ohne Wasserfahrzeug ist man hier aufgeschmissen.

Und Åland ist nur ein Teil des Archipels, das im Westen bis nah an Stockholm und im Osten bis Turku reicht. Insgesamt umfasst das Schärengebiet rund 90.000 Inseln, die alle so nah beieinanderliegen, dass man ganz alleine auf einer sein und doch immer auch andere sehen kann. Sehr intim wirkt das. Und doch selten einsam.

„Eigentlich bilden alle Schären zusammen eine große Region“, sagt Annegret Karsbrink von der Gemeinde Värmdö. „Nicht nur geografisch, sondern auch geschichtlich.“ Und politisch sowieso. Åland hat zwar eine eigene Verfassung, ein eigenes Parlament und eine eigene Post, wird aber bei internationalen Verhandlungen von Finnland vertreten. Gesprochen wird allerdings Schwedisch – was wiederum überall im Archipel verstanden wird.

Ein länderübergreifendes EU-Projekt soll die gefühlte Einheit nun auch für die Entwicklung des Tourismus nutzbar machen. Die jeweiligen nationalen Bereiche sind zu klein, um sich über die Landesgrenzen hinaus zu vermarkten. Unter dem Namen „Scandinavian Islands“ geht es nun darum, einen „umweltfreundlichen, regional angebundenen Qualitätstourismus“ zu entwickeln. „Wir wollen einerseits einen Überblick schaffen, was es hier alles an kleinen touristischen Dienstleistern gibt, und die untereinander sowie mit den Behörden vernetzen“, sagt Karsbrink, die an dem Projekt mitarbeitet. Aber es sollen auch Standards geschaffen und somit festgelegt werden, was überhaupt ein „nachhaltiges Angebot“ ist. Das ist nicht so einfach und geht nur langsam voran.

Richtig sichtbar ist bislang nur der gemeinsame Internetauftritt (www.scandinavianislands.com). Das ist kein Wunder, denn trotz aller Gemeinsamkeiten haben vor allem die Schweden und die Åländer ganz unterschiedliche Probleme. Die Stockholmer Schären werden vor allem von reichen Stockholmern frequentiert, gerne im Sommer, wenn es auch in Schweden für ein paar Wochen ganz schön heiß werden kann. Viele haben sich längst eins der traditionellen Holzhäuschen gesichert und damit die Immobilienpreise auf den Inseln angeheizt. Etwa im Seebad Sandhamn auf Sandön, das in der kurzen Zeit von Tagesgästen überrannt und im Herbst dann zur Geisterstadt wird. Denn für die wenigen ganzjährigen Bewohner sind die Häuser im Ort längst zu teuer geworden – sie sind auf die andere Seite der Insel in die Wälder ausgewichen.

Geld bringen die reichen Hausbesitzer kaum, sie haben die Holzgebäude zu kleinen Villen mit allem Schnickschnack umgebaut und bleiben meist unter sich. Oder sie entwickeln eigene Aktivitäten. Wie Björn Åkerlund, der auf der Insel Rågskär in Värmdö ein kleines Konferenzzentrum aufgebaut hat, das nicht viel mehr ist als eine Art Bungalow mit einem großen Raum für Seminare und Workshops, ein paar Schlafräumen und einer Küche. Dazu kommen ein Bootshaus, die freistehende Sauna und ein Windrad hinter dem Haus.

Rågskär selbst hat man in fünfzehn Minuten umrundet. Wenn man langsam schlendert und jeden Felsen mitnimmt. „Keine Ahnung, wie groß die Insel ist“, sagt Åkerlund, der früher Stahlmanager bei SKF war und jetzt mit seiner Frau fast den ganzen Sommer hier draußen verbringt. „Was die Leute hier suchen, ist die Stille.“ In den letzten drei Jahrhunderten waren es vor allem Künstler, Literaten, Maler, Fotografen, die sich in die Schären zurückzogen. August Strindberg, Anni Polva oder Henning Mankell.

„Heute wollen sich auch Geschäftsleute von der gleichen Atmosphäre inspirieren lassen.“ Åkerlunds Kunden sind vor allem große Unternehmen, die hier Seminare für ihre Führungskräfte veranstalten. Energie bezieht Åkerlund aus erneuerbaren Quellen, Strom liefert das Windrad, Solarzellen erzeugen Wärme. Das passt zum Selbstversorgeranspruch, einen ökologischen Anspruch zementiert es nicht. „Man ist hier auf sich gestellt“, sagt Åkerlund. Die Großstadt sei jedoch nicht wirklich weit entfernt: „Mit dem Helikopter sind es zehn Minuten von Stockholm hierher.“

Ein bisschen weiter draußen auf dem Meer sieht es allerdings schon wieder anders aus. Auf der Insel Möja können Besucher miterleben, wie das Leben auf dem Archipel ursprünglich war: gut strukturiert und friedlich. Polizei gibt es nicht. Gewalttaten kommen nur in den Krimis der Schriftsteller vor, die hier auf Urlaub oder Recherche weilen. Kaum in der Realität. Aber es gibt auch keine Geschwindigkeitskontrolle, wenn die Jugendlichen in halsbrecherischem Tempo die einzige halbwegs befestigte Straßen hoch und runter jagen. Manchmal mit Fahrrädern, lieber aber mit dem Mofa oder den auch hier beliebten Quads. Montags kommt der Arzt.

„Man braucht mit den schnellen Booten heute kaum länger als zwei Stunden nach Stockholm“, sagt Karsbrink. Eigentlich beste Voraussetzungen für Reisende. Bislang allerdings wohnen auf Möja vor allem Handwerker und erst seit einigen Jahren wieder Landwirte. Gerade erst hat die erste Pension aufgemacht, auch einen Kanuverleih gibt es schon. „Aber die Menschen hier haben ein wenig Angst davor, dass Tourismus ihr Leben verändern könnte“, erklärt Sune Fogelström, der die Reisenden mit seinen Wassertaxis durch die Schären fährt und hier auf Möja gerade ein paar Ferienhütten herrichtet.

Spüren lassen die Inselbewohner die wenigen Reisenden, die jetzt schon kommen, ihre Befürchtungen nicht. Im Gegenteil: Wo man auch landet, wartet schon ein Glas Schnaps, dazu süßes schwarzes Brot oder Pfannkuchen mit Pflaumenmus und saurer Sahne. Und meist auch jemand, der Lust hat zu erzählen.

Gewalttaten kommen nur in den Krimis der Schriftsteller vor, die hier Urlaub machen

Auf Åland ist der Druck, eine Reisewirtschaft zu entwickeln, viel größer als auf den schwedischen oder finnischen Schären. Denn bislang ist das Land vor allem von der Seeschifffahrt abhängig. 85 Prozent des Wirtschaftsleistung werden von den Reedereien und Fährlinien erwirtschaftet. Doch die brauchen dafür immer weniger Menschen. Zugleich beschränkt die Mitgliedschaft in der Europäischen Union die Möglichkeiten für staatliche Subventionen drastisch – und greift mit den Fischereifangquoten und dem Schutz etwa der Seeadler tief ins traditionelle Leben der Fischer ein. „Wir brauchen auf Dauer eine andere Wirtschaftsstruktur“, sagt Göran Lindebäck, ein Schiffsingenieur, der nebenbei als Fremdenführer arbeitet.

Für jemanden wie Rundberg ist das gar nicht mal so schlecht. Auch wenn der Fischer, der mit seiner Frau Minna, einer Designerin, in der Gemeinde Jomala wohnt, immer noch hauptsächlich vom Fischen lebt. „Ich versuche, mehr ins Tourismusgeschäft zu kommen“, sagt er. „Das macht mir mehr Spaß.“

Und es ist an und für sich gar nicht so schwer. Manche Gruppen sind schon zufrieden, wenn der Ålander sie mit zu seinen Netzen nimmt und sie zusehen können, wie er arbeitet. Andere wollen selbst angeln. Nicht nur Barsch, sondern beispielsweise auch Hecht, der schon etwas mehr Geschick und Techniken wie Spinnen oder Blinkern erfordert, weil er vor allem auf bewegte Köder reagiert. Alle aber lassen sich gern in sein rot verkleidetes Haus mit den zwei Bootsstegen führen – und den Riesenlachs zeigen, den Rundberg vor ein paar Jahren aus dem Meer gezogen hat.

Bislang kommen die Gäste ausschließlich über Mundpropaganda. Vor allem die Leute aus dem Hotel Arkipelag in Mariehamn empfehlen ihn gern. „Ich könnte aber noch mehr Besucher vertragen“, sagt Rundberg.

Wie Rundberg oder Lindebäck leben viele Ålander. Eigentlich sind sie Fischer, Ingenieure, Schiffsbauer. Tatsächlich arbeiten sie auch als Fremdenführer oder bieten Übernachtungsmöglichkeiten auf den Inseln an. „Wir haben aber ein Marketingproblem und noch zu geringe Kapazitäten“, meint Johan Göran, der auf einer der kleineren Inseln ganz in der Nähe ein kleines Konferenzzentrum aufgebaut hat. Mit den üblichen Hotels hat das wenig zu tun: In zwei kleineren Holzhäusern sind die Zimmer untergebracht, in einem größeren tut sich eine gemütliche Halle mit einem riesigen Kamin und schweren dunklen Tischen auf. „Arbeiten“ heißt hier für die Gäste meist, sich besser kennenzulernen und neue Ideen zu gewinnen. „Aber auch damit stehen wir im Wettbewerb mit Marbella und anderen Mittelmeerstädten“, sat Göran. Ob die Manager drei Stunden nach Spanien fliegen oder drei Stunden mit den Booten raustuckern, sei den Unternehmen völlig egal. „Wenn wir einmal absagen müssen, haben wir sie als Kunden verloren.“ Auch aus diesem Grund ist Göran sehr für Vernetzung und Kooperation der vielen regionalen Anbieter. „Dann könnten wir die Leute einfach zur Nachbarinsel verweisen.“

Dass das „Scandinavian Islands“-Projekt nach hinten losgeht und plötzlich viel zu viele Touristen kommen, fürchtet auf Åland erst mal niemand. „Das Leben hier findet weitgehend outdoor statt, das ist nicht jedermanns Sache“, sagt Rundberg.