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Archiv-Artikel

Europas Seelenwanderung

Die Karawane der Künstler: Die Manifesta 7 ist die bisher größte Ausgabe der europäischen Biennale. Der Geschichte Südtirols und des Trentino öffnet sie einen Echoraum in der zeitgenössischen Kunst

Die erste Manifesta fand 1996 statt, damals noch mit der Idee, eine neue Plattform für Begegnungen von West- und Osteuropa zu werden

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Wo fängt man an? Am höchsten Punkt, in den Bergen, um sich dann langsam nach unten vorzuarbeiten? Tatsächlich bietet die Geografie den einfachsten Leitfaden für die Manifesta 7, einen über 150 Kilometer ausgedehnten Kunstparcours längs eines der ältesten Wege über die Alpen. Fortezza/Franzensfeste, Bolzano, Trento, Rovereto: Mit dem Zug oder dem Auto vom Brenner kommend, beginnt hier Italien. Dass die politischen Grenzen aber in diesem von vielen Wanderungsbewegungen geprägten Raum Ergebnis einer äußerst wechselhaften Geschichte sind, bildet die Grundierung der Manifesta 7. Denn schon die Gebäude, in denen sie sich hundert Tage lang mit Hörräumen, Filmen und bildender Kunst ausbreitet, bezeugen die Geschichte der Region und sind damit selbst höchst prominentes Ausstellungsstück der Manifesta.

Die Franzensfeste etwa ist ein äußerst geheimnisvoller Ort, eine gigantische Festung, die erst 2005 vom italienischen Militär aufgegeben wurde und bis dahin nicht mal fotografiert werden durfte. Die überirdisch sichtbaren Bauwerke sind nur ein kleiner Teil eines verwirrend weitläufigen Systems von tief in die Berge gebauten Tunneln und Gewölben, das jetzt erstmals zum öffentlichen Ort wird. Ihre Errichtung 1832/38 durch die Habsburger Monarchie war der Angst vor Napoleon geschuldet; so dick ihre Mauern auch waren, Ideen konnten sie nicht aufhalten. Gekämpft wurde hier nie. Architektonisch ein staunenswertes Monstrum, politisch ein Fehlschlag und logistisch ein schwer zu kontrollierendes Bauwerk – ein sagenhafter Goldschatz ging dem italienischen Staat hier im 2. Weltkrieg verloren – ist sie ein fantastischer Ort für Projektionen. Und genau als das bespielt sie die Manifesta 7, die zehn Dichter, Philosophen und Literaten eingeladen hat, Hörstücke für diese Mauern zu entwickeln.

„Follow your language“ lautet dabei die Anweisung, jede Installation läuft in Italienisch, Deutsch und Englisch. Mehrsprachigkeit, eine Eigenschaft Südtirols, ist ein Motiv, das von den Künstlern genutzt wird, um von Wanderungsbewegungen und den Konstrukten nationaler Gebilde zu erzählen. Thomas Meinecke etwa folgt den unterirdischen Strömungen des Black Atlantic, der längs der Wege der Sklavenhändler zwischen Afrika und Amerika eine Kultur des Untergrunds, des Versenkten und des Versunkenen gegründet hat. Margareth Obexer, Dramatikerin, lässt in kurzen Briefen am Versuch einer jungen Frau aus Mali, nach Europa zu kommen, teilnehmen.

Die indische Autorin Arundhati Roy hat ein äußerst satirisches Stück, „Die Unterweisung“, geschrieben, das vor dem Hintergrund der Klimaveränderungen vom Kampf um die Marktführerschaft im Kunstschneegeschäft erzählt. Es ist eine Gegend, die vom Tourismus und der Wasserkraft lebt, auf den Leib geschrieben. Schneekanonen sind es, mit denen der kapitalistische Kampf ausgetragen wird.

Der Weg nach unten ist der Weg des Wassers. Um die Bahn, die vom Brenner kommt, mit Strom zu versorgen, wurde der Fluss Eisack, der neben der Franzsensfeste vorbeidonnert, aufgestaut. Auf die Wasserkraft geht auch die Geschichte des zweiten Ausstellungsorts, die inzwischen stillgelegte Alumixfabrik in Bozen, zurück. In ihr verbindet sich die Architektur- und Industriegeschichte der Moderne mit der Siedlungspolitik unter Mussolini. Denn in den 30er-Jahren erbaut, diente sie nicht nur der Aluminiumproduktion, sondern auch der Ansiedlung süditalienischer Arbeiter im deutschsprachigen Gebiet.

Es ist noch nicht lange her, dass Bolzano 1, das ehemalige Transformatorenhaus, das mit seinen Fensterbändern und Ziegelsteinflächen an die Architekten des Bauhaus erinnert, unter Denkmalschutz gestellt wurde. Die Manifesta 7 ist die erste öffentliche Nutzung der inzwischen landeseigenen Immobilie und damit auch eine weithin sichtbare Anerkennung als Industriedenkmal, der faschistischen Vergangenheit zum Trotz. Ähnliches gilt für das alte Postgebäude in Trento: Und damit ist auch ein Motiv genannt, warum sich die Regionen Südtirol und das Trentino um die Manifesta 7 beworben haben und für zwei Drittel des Etats von 3,7 Millionen Euro aufkommen. Die Karawane der Künstler bietet ihnen die Möglichkeit, das Eigene mit anderen Augen zu sehen und in neue, weltläufige Kontexte zu stellen.

„The Rest of Now“ heißt die Ausstellung, die das aus Indien stammende Kuratorenteam Raqs Media Collective in der Alumix all jenen widmet, die von den Modernisierungsprozessen zurückgelassen wurden. Dabei geht es nicht etwa um eine Glorifizierung des Verlorenen: Eine schöne und transparente Arbeit in der hohen Halle der Alumix erinnert an die Umweltverschmutzung durch die Fabrik. Jorge Otero-Pailos hat für „The Ethics of Dust“ den Staub und die Rückstände einer Wand in Latexfolien eingegossen, die nun raumhoch das Licht filtern. Ähnlich großzügig gehen Reinhard Kropf und Siv Helene Stangeland mit der Industriekathedrale um: Ein in die Wand gefrästes Bild folgt den Spuren der Bakterien und Pilze, die leer stehende Gebäude bewohnen.

Zwischen diesen raumgreifenden Elementen werden in Fotografien, Zeichnungen, Skulpturen und Videos viele Geschichten über Brüche und Verschiebungen in der Arbeitswelt erzählt. Alexander Vaindorf aus Odessa folgt den Spuren der Altenpflegerinnen, die als Arbeitsmigrantinnen aus den ehemaligen sowjetischen Republiken nach Rom kamen. Einen Raum aus Stoffen hat Hansa Thapliya aus Mumbai gebaut und erzählt mit Fotografien und Stickereien auf den flatternden Bahnen von einem Schneider aus Kaschmir und einer Zeit staatlicher Gewalt. Aus Singapur stammt Charles Lim Li Yong, dessen Videobilder nur einen Schwimmenden in einem äußerst trüben Becken zeigen – seine Filme verfolgen den Kampf gegen die Kräfte des Verfalls der künstlich geschaffenen Umwelt in den Tropen. Aus den Uniformen und Instrumenten einer Kapelle hat Latifa Echakhch ein Stillleben entworfen, das auf das Ende von ritualisierten Formen von Gemeinschaftsbildung hinzuweisen scheint.

Es funktioniert verblüffend gut, wie die Werke der beinahe fünfzig Künstler und Künstlerkollektive an diesem Ort ein Thema variieren, das immer nah an der Hybris von Fortschritt und Zivilisation angesiedelt ist. Dennoch leidet auch die Manifesta 7, wie fast jede Biennale heute, an ihren eigenen Ambitionen, braucht man doch schon mindestens zwei Tage, um an alle Orte zu fahren. Tatsächlich ist das Ausstellungspaket mit 230 Künstlern die bisher größte Ausgabe dieser wandernden europäischen Biennale. Deren Problem ist es, jedes Mal Infrastruktur und Profil neu begründen zu müssen, da sie immer eine andere Stadt in Europa bespielt. Sie begann 1996 in Rotterdam, damals noch mit der Idee, eine neue Plattform für Begegnungen von West- und Osteuropa zu werden. 2006 sollte sie in Nikosia auf Zypern stattfinden und wurde wegen politischer Schwierigkeiten abgesagt. Getragen wird sie von einer internationalen Stiftung, die die Städte, die sich um das Kunstevent in der Hoffnung auf kulturelle Kapitalbildung bewerben, ebenso aussucht wie die Kuratoren. Neben dem Raqs Media Collective (Jeebesch Baghi, Monica Narula, Shuddhabrata Sengupta) sind das diesmal Adam Budak vom Kunsthaus Graz und Anselm Franke und Hila Peleg, die vor einem Jahr von den Kunstwerken Berlin nach Antwerpen als künstlerische Leiter des Extra City Center for Contemporary Art gingen.

In Rovereto treibt Daniel Knorr den Gedanken, aufgegebene Gebäude als öffentliche Orte neu zu etablieren, auf die Spitze. Die klassizistische Fassade der alten Kakaofabrik Ex-Peterlini sieht nun noch mehr nach einem Tempel der Arbeit aus, nachdem Knorr alle Türen ausgehängt und die Halle somit für 24 Stunden täglich zum öffentlichen Raum erklärt hat: „Ex-Privato“, der Titel ist Konzept.

In Trento wirkt die alte Post, die 1929 von dem Architekten Angiolo Mazzoni entworfen wurde, wie ein finsteres Bollwerk der Macht zwischen den grazileren Palästen der Renaissance. Tatsächlich war Mazzonis Entwurf in freundlichen Farben und leichtere Volumen gegliedert, erst spätere Umbauten ließen ihn zu dem schweren Monstrum werden, das man heute der Mussolini-Zeit zurechnet. Das ist schon die erste Geschichte einer Umdeutung und Verschiebung, an denen die Ausstellung aus den Händen von Hila Peleg und Anselm Franke reich ist. Unter dem Titel „The Soul or, much Trouble in the Transportion of Souls“ haben sie mit 45 Teilnehmern einen attraktiven und suggestiven Rundgang durch die verwinkelten Kammern und Flure konzipiert. Mit Bildsprachen nahe am Thrill, mit vielen Grotesken, mit Sinnlichkeit und Mysteriösem verführend, mit Abstechern in die Psychologie der politischen Verdrängung lockt hinter jeder Tür ein anderer Werkkomplex.

Den Innenraum der Psyche, der Seele und des Selbst auszuleuchten ist ein Projekt, das eng mit der Kulturgeschichte Europas, wie zum Beispiel der Einführung der katholischen Beichte, verbunden ist. Schon im Treppenhaus beginnt das Spiel mit dem Unheiligen und dem Kitsch religiöser Innerlichkeit. Von Luigi Ontani stammt die Keramik eines Paars betender Füße und eine Reihe changierender 3-D-Fotografien, in denen eine Maskerade des Frommen und des Obszönen aufgeführt wird. Gewaltfantasien und religiöse Erlösungslegenden gehen merkwürdige Verbindungen ein in den Videos von Tamy Ben-Tor und den Zeichnungen von Roee Rosen, die beide aus Israel stammen. Zweifel an der Evolution und am Recht der Herrschaft des Menschen über die Tiere äußert Klaus Weber in einem Raum voller kleiner Affenskultpuren: Jeder der Affen sitzt auf einem Berg von Büchern und betrachtet einen Schädel, ganz so, als wäre er Hamlet.

Von eigenartigen Symbiosen zwischen dem menschlichen Körper und einer synthetischen Welt der Roboter handeln die Videos von Daria Martin und Zeichnungen von Anne-Mie von Kerckhofen, während sich bei Marcus Coates die Stimmen der Vögel in die Körper der Menschen einschleichen und sie zu konvulsiven Bewegungen treiben. Man geht durch die Räume der Seelenausstellung bald wie durch den Zauberwald von „Jorinde und Joringel“. Nur dass man nicht mehr glauben kann wie einst, dass die Liebe Probleme lösen könnte.

So ist man denn wieder im Inneren und Geheimnisvollen angekommen, wie in der Festung zu Beginn der Ausstellungsreise. Ist das ein Rückzug ins Private, ein Ermüden nach den gesellschaftlichen Diskursen? Nein, so gestrickt sind die Strategien der Künstler und Kuratoren denn doch nicht. Der Blick nach innen entsteht immer aus einer Spannung zum Außen, und er spürt in der Konstruktion des Selbst die Abdrücke der Macht, der Gesellschaft und ihrer Technologien auf.

Manifesta 7: bis 2. November 2008, Informationen: www.manifesta7.it