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Archiv-Artikel

uli hannemann, liebling der massen Böse Tiere und Schlampen, die Schicksal heißen

Die Natur hat viele Vorteile: Wenn man in ihr drin beziehungsweise draußen ist, kann man das schöne Wetter viel besser angucken und genießen, wenn denn schönes Wetter ist. Es gibt Wälder und Badeseen und jede Menge interessanter Tiere. Doch auch Nachteile hat die Natur, und zwar in Gestalt jeder Menge interessanter Tiere. Die meisten der interessanten Tiere bewohnen die Wälder und Badeseen, sind grundböse und dem Städter feindlich gesinnt. Mittels verschiedenster Kau-, Fress-, Beiß-, Stoß-, Schieß-, Schlag- und Stechwerkzeuge trachten sie uns nach Verpflegung, Blut oder Leben.

„Wenn ich an der Wespenschule unterrichten würde, würde ich sagen: ‚Setzt euch nie auf ein offenes Buch!‘“, sagt die Freundin und klappt erschöpft ihren Krimi zu. Offenbar ist sie zu müde geworden zum Lesen. Der dauernde Abwehrkampf gegen Wespen und Bremsen ist zermürbend, noch dazu müssen wir die vierjährige Tochter unseres Freundes beschützen. Die läuft zwar von Wasser und Sand rundum paniert am Strand herum, doch das dürfte als Schutz gegen Stiche kaum reichen. Den zweiten Tag hintereinander liegen wir jetzt am Ruhlsdorfer Bernsteinsee, und die Wespen haben sich voll an uns gewöhnt. Sogar beim Küssen versucht eine mitzumachen. Sie schafft es jedoch nicht, sich zwischen unseren Lippen hindurch- und in unsere Münder hineinzuzwängen.

Schade fast: Es wäre durchaus spannend geworden, herauszufinden, ob unsere Loyalität standhielte oder wir in Panik versuchen würden, einander mit Zähnen und Zunge den gelbschwarzen Peter zuzuschieben. Aus einer schläfrigen Badetagsknutscherei hätte sich so fix ein echter Prüfstand für die Liebe entwickelt und, da wir beide allergisch sind, am Ende womöglich sogar stilecht mit Trauernden und Toten geendet. Romeo und Julia in der Zone.

Doch es gibt auch gute Tiere. Zumindest wirken sie auf den ersten Blick so. Ein kleiner gelber Käfer kommt herbeigeflogen und setzt sich auf mein Bein. Es ist genau derselbe gelbe Käfer, der schon am Vortag auf mir saß. Bis dahin hatte ich noch nie so einen gelben Käfer gesehen. Die anderen ebenfalls nicht. Und auf wen hat er sich gesetzt, der gelbe Käfer? Auf mich, und zwar ausschließlich.

Großartig! Vergessen sind die Wespen und die Bremsen. Vergessen ist auch Julia. Das Schicksal hat es offensichtlich mehr als gut mit mir gemeint. Es hat mich geküsst. Mit Zunge. Es hat mir in den Schritt gegriffen, die Eier umfasst und sanft geknetet.

Mit einem Mal erfasst mich eine unglaubliche Leere. Das geht mir hier alles viel zu leicht und viel zu schnell. Das Schicksal ist eine Schlampe. Es ist wahllos und grausam ungerecht. Der gelbe Käfer hätte sich schließlich genauso gut abwechselnd fünf Minuten lang auf jeden hier setzen können und nicht zwei Tage lang ausschließlich auf mich. Was soll das? Sehe ich so aus, als ob ich solche Privilegien nötig habe? Auf derartige Formen der Zuwendung durch gelbe Käfer kann ich gern verzichten.

Das vormalige Glücksgefühl fällt komplett von mir ab und macht einer bleiernen Ernüchterung Platz. Kurz denke ich an Selbstmord. Ich hasse das Schicksal für seine nuttenhafte Beliebigkeit und beginne nun auch den gelben Käfer zu hassen, und zwar mehr, als ich jemals irgendwas oder irgendwen gehasst habe.

Mein Hass brennt wie Jod in der tiefen Wunde der Enttäuschung. Der gelbe Käfer ist ein Schwein! Die fieseste Bremse, der niederste Pestfloh dünken mich im Vergleich ehrlich und gut. Ich fühle mich erst besser, als ich den gelben Käfer zwischen Daumen und Zeigefinger zerdrückt habe. „Dem Schicksal ein Schnippchen schlagen“ nennt man das wohl.

Wir packen unseren Kram zusammen, säubern das panierte Kind und ziehen es an. Es geht zurück in die Stadt, wo wir hingehören.