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Die Vögel

Attacke in Potsdam

„Herrlich“, sagt der Freund. „Aber sei dir bewusst, dass jeder einzelne Blick hier konstruiert ist. Da, zum Beispiel“, ruft er, „zwischen den beiden Bäumen siehst du nicht nur das lauschige Bächlein, sondern auch den Alten Fritz.“ Wir schlendern durch den Schlosspark in Potsdam, und bis gerade eben wähnte ich mich mitten in der Natur. Jetzt sehe ich, was der Freund meint: Alles wirkt auf einmal künstlich, gewollt oder eben konstruiert.

„Es ist trotzdem schön hier“, sage ich. Er läuft hinter mir und macht ein komisches Geräusch. Ich drehe mich um. Er fuchtelt mit den Armen, sein Gesicht zu einer Grimasse verzerrt. Ich sehe gerade noch, wie eine Krähe aus seinem Haar fällt. Sie fliegt nicht, sie fällt groß und fest aus seinem Haar auf den Boden. „Sie hat mich angegriffen“, schreit er und läuft ein Paar Schritte weiter. Die Krähe legt ihren Kopf auf die Seite und trippelt energisch hinter ihm her. „Sie ist auf meinen Kopf herniedergestoßen.“ Er geht jetzt ein wenig schneller.

Zwei Frauen sind stehengeblieben. Eine ist hochschwanger. „Hat die Krähe Sie gerade angegriffen?“, fragt die Schwangere. „Genau“, sagt der Freund, „das hat sie.“ Die Krähe tippelt weiter in unsere Richtung. „Da gehe ich aber nicht lang“, sagt die Schwangere. Der Freund sucht auf seinem Kopf nach Blut. Ein Jogger nähert sich. „Sollen wir ihn warnen?“, frage ich. Die Schwangere schüttelt den Kopf. „Mal sehen, was passiert“, sagt sie. Die Krähe ist stehengeblieben. Sie steht in der Mitte des Weges mit schief gelegtem Kopf und starrt in unsere Richtung. Der Jogger läuft an uns vorbei, gerade auf die Killer-Krähe zu. Der Freund atmet pfeifend. Der Schwangeren läuft Spucke aus dem Mundwinkel. Ihre Freundin zündet sich eine Zigarette an. Lautlos fliegt die Krähe davon. MAREIKE BARMEYER

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