wiedergelesen (II) : Es geht um Pubertät
Ist lange her, mehr als ein schlankes Jahrzehnt ist vergangen, wahrscheinlich sind‘s zwanzig, wenn nicht dreißig Jahre, seit ich ein Buch von Hubert Fichte gelesen habe. Ein Indiz: Sämtliche Dateien auf dem Rechner nach „Fichte“ durchwühlt, fand sich nur eine Polemik gegen die gleichnamige Baumart, aber nichts über den Schriftsteller (1935-1986).
Nun müsste man von Rechts wegen zu Fichtes Roman „Die Palette“ von 1968 greifen, sein bis heute erfolgreichstes Buch, über die gleichnamige Keller-Spelunke und deren Protagonisten in der ABC-Straße. Nicht im Bücherbord auffindbar. Hab ich‘s seinerzeit gelesen? Hm.
Ganz gewiss las ich damals seinen 1974 veröffentlichten Roman „Versuch über die Pubertät“, und zwar ein Exemplar der Neuausgabe von 1979, mutmaßlich also nach meiner Pubertät. Nebenbei: Nachdem ich neulich in die Bücherkiste gegriffen hatte, erschien der Stern mit dem schön bescheuerten Titel „Besser leben ab 40. Die zweite Pubertät“.
War es der erste Satz des Prologs, der das Interesse des jungen Mannes weckte? „Plötzlich – aber vielleicht vorbereitet durch langsam zur Oberfläche geschwemmtes Material – entdeckte ich, dass alle meine Versuche bisher nur eine Bewegung verrieten: zurückzufinden in frühere Schichten.“
Mag sein. Wie die neuerliche Lektüre nahe legt, die beleuchteten Erinnerungsflecken interpretierend, bestand das Reizvolle nicht in Fichtes lebhaften, deutlichen Schilderungen seiner homosexuellen Initiation, nicht in den Details über „die Zusammenrückung des barocken Kots und Urins – Harnleiter und Darmausgang in eins. / Von hinten da rein. / Selbstverständlich.“ Nein, nicht dies erregte Neugier. Anregend stattdessen für mich, der selber schreibend Erzähltonarten planlos ausprobierte, wirkten Fichtes Collagetechnik, der Schreibstil, die Art des Sprechens. Was Fichte auf seinen Forschungsexpeditionen zu synkretistischen afroamerikanischen Religionskulten aus naher Distanz dokumentiert, Szenen in einem Leichenhaus etwa, flicht er zusammen mit den Ritualen eines Heranwachsenden im kriegszerstörten Hamburg zunächst, der mit zwölf Jahren Geld verdient am Deutschen Schauspielhaus, am Thalia-Theater und an den Hamburger Kammerspielen als Kinderdarsteller, bis sein Stimmbruch die Karriere jäh beendet. Mit 17 verlässt Fichte Hamburg in Richtung Frankreich.
Abgesehen von zwei dazwischen geschalteten Kapiteln, die jeweils „eine andere Pubertät“ in Ich-Form erzählen, verweist der autobiografische Bezug auf ein anderes Leitmotiv des „Versuchs“ und zugleich auf ein weiteres Lesemotiv seinerzeit, Sätze wie diese: „Ich, sage ich, würde nie ein Buch in der ersten Person Singular schreiben. (…) – Setz doch dein Ich in Anführungsstriche! / – Nenn dich ‚Roman‘. (…) Und diese meine Ichs nudeln mein Ich gelegentlich so dünn, dass man kaum noch Christbaumsternchen aus mir stechen könnte. (…) Ichbewußtsein zwischen Ichverlust und Ichverlust.“ – „Na, da sprichste was an“, wird daraufhin das eine oder andere meiner damaligen Ichs gesagt haben. Identitäterä.
Während der zweiten Lektüre schließlich stellte sich wie in einem kaleidoskopischen Spiegel unvermutet einer der berühmten Romananfänge von Nabokov ein, der aus gänzlich anderer Warte das Pubertäre charakterisiert: „Die Wiege schwingt über einem Abgrund und der Hausverstand sagt uns, dass unser Leben nur ein kurzer Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels ist. (…) die ersten und die letzten Dinge haben oft etwas Pubertäres an sich – es sei denn, eine ehrwürdige und strenge Religion ordnete sie. Die Natur erwartet vom erwachsenen Menschen, dass er die schwarze Leere vor sich und hinter sich genauso ungerührt hinnimmt wie die außerordentlichen Visionen dazwischen.
Die Einbildungskraft, die höchste Wonne des Unsterblichen und des Unreifen, soll ihre Grenzen haben. Um das Leben zu genießen, dürfen wir es nicht zu sehr genießen. Ich lehne mich auf gegen diesen Zustand.“ Dem hätte Fichte, wage ich zu behaupten, nicht widersprochen.
DIETRICH ZUR NEDDEN
Hubert Fichte, Versuch über die Pubertät, Roman, 304 Seiten, S. Fischer Verlag, Die Palette, Roman, 352 Seiten, S. Fischer Verlag. Außerdem: Hubert Fichte, Die Geschichte der Empfindlichkeit, 17 Bände