Wiedergelesen (lll): Theodor Storm, Der Schimmelreiter : Der Faust der Friesen
In der Serie „Wiedergelesen“ besprechen unsere Autoren norddeutsche Romane, die vor langer Zeit erschienen, ihnen aber seitdem nicht mehr aus dem Kopf gegangen sind
1798 ätzte Francisco Goya das berühmte Capricho Nr. 43 in die Druckplatte. Es zeigt einen Schlafenden, umgaukelt von grimassierenden Nachtmahren. Er scheint ein Mann des Intellektes zu sein, darauf lassen die Schreibutensilien schließen, zwischen denen sein Haupt auf der Tischplatte ruht. „El sueño de la razón produce monstruos“, hat Goya unter das Blatt geschrieben. Aber was will der Künstler uns damit sagen? Sueño bedeutet Schlaf und zugleich Traum. Lässt also a) der Schlaf der Vernunft die Ungeheuer von der Kette, oder ist es b) der (Alb-)Traum einer alles durchdringenden Ratio, der das Böse weckt?
Diese Frage spukt seit mehr als 200 Jahren durch die Geistesgeschichte. Der spätkapitalistische Mainstream bevorzugt schon aus reinem Selbsterhaltungstrieb Variante a.
Hellere Köpfe halten es da eher mit Horkheimer und Adorno, die in ihrer Dialektik der Aufklärung konstatierten, die „Entzauberung der Welt“ durch den Logos habe stets nur eines heraufbeschworen: „triumphales Unheil“. Das kluge Büchlein ist allerdings keine leichte Kost, weil bloße Theorie und gedüngt mit dem kategorischen Furor des Schwerdenkertums. Dankenswerterweise hat Theodor Storm (1818 – 1888) demselben Thema eine wundersame Erzählung gewidmet, die unsere Fragestellung – nach gutem altem Novellenbrauch – am konkreten Einzelfall durchexerziert.
Es ist die Geschichte von Hauke Haien, der es Ende des 18. Jahrhunderts vom Sohn eines armen Marschbauern zum Deichgrafen bringt, einen neuen, leider fehlerhaften Damm konstruiert und samt Frau und Kind in einer Sturmflut ertrinkt. Seitdem spukt er als Sendbote des Unheils durch das Husumer Watt. Dass dieses Schicksal ausgerechnet einem hochfahrenden, aber durchaus sympathischen Technokraten widerfährt, ist nur eine der diabolischen Volten in dieser kunstvoll verschachtelten Rahmenerzählung. Freidenker Storm, dem der geistlose Utilitarismus der Gründerzeit ebenso suspekt war wie der heidnisch gedüngte Fatalismus seiner friesischen Landsleute, hat es im Subtext darauf angelegt, das epische Ringen zwischen Götze Fortschritt und erdenschwerer Beharrlichkeit zu illustrieren.
Haukes Werkzeug zum sozialen Aufstieg ist eine holländische Euklid-Ausgabe. Der begabte Eigenbrötler erschließt sich das Standardwerk mit einem Wörterbuch und überragt seine Mitbürger bald nicht nur an Körpergröße. Während diese, gedrückt von Beschränktheit, pietistischem Sektierertum und Sozialneid um ihre Warften zuckeln, kann Hauke seine Vorstellungen vom modernen Deichbau verwirklichen. Dass er dabei erheblichen Landbesitz herausschlägt, macht den Parvenü für die Wattbewohner nicht beliebter.
Da ahnt der Leser längst, dass es mit dem Friesen-Faust kein gutes Ende nehmen wird. Den Aufstieg Haukes untergräbt Storm von Beginn an mit prächtigen Bildern aus dem Fundus der Horrorliteratur. Da werden Leichen an den Strand gespült mit „Köpfen wie Seeteufel“ und aus den gefrorenen Prielen steigen Nebel, die Kreaturen der Hölle ähneln; als Hauke einmal mit seinem Töchterlein Wienke auf dem Deich steht, starrt sie totenbleich aufs Wasser und fragt: „Hat es Beine? (...) kann es über den Deich kommen?“ Später wird ein goldener Wetterhahn von der Turmspitze geweht und „ein groß Geschmeiß wie ein Schnee“ fällt mitten im Sommer vom Himmel. Zuguterletzt verhindert Hauke, dass die Bauern – wie es seit Jahrhunderten Brauch ist – einen Hund als lebende Opfergabe im neuen Deich verbuddeln. So summieren sich die Vorzeichen für ein „Unglück über ganz Nordfriesland“, während sich der Deichgraf in den mythischen Schimmelreiter verwandelt. Auf der Hallig Jeversand wollen zwei von Haukes Knechten beobachtet haben, wie sich „im trüben Mondduft“ das Gerippe eines Pferdes als „lebige Kreatur“ erhebt. Eben diesen Schimmel glauben sie kurz darauf in Stall ihres Herrn zu sehen. Verkäufer war ein sinistrer Landstreicher, der Preis betrug dreißig Taler, was seine Mitbürger sogleich als Judaslohn (dreißig Silberlinge) und Teufelspakt interpretieren.
Vor allem die Mume Trin’ Jans, die Hauke in seinem Haus aufnimmt, befeuert mit ihren Spökenkiekereien die Dämonisierung des Protagonisten. Auf dem Sterbebett bricht aus der Greisin eine schreckliche Vision der Flut. „Hölp mi! Hölp mi! Du bist ja bawen Wasser... Gott gnad de annern!“ Selbst dem Deichgrafen wird es nun mulmig. „Was soll die alte Hexe. Sind denn die Sterbenden Propheten?“ In diesem Fall ja. Denn als Hauke mit seinem Ross das nächste Mal über die Deichkrone jagt, ist alles verloren. „Nur Berge von Wasser sah er vor sich, die dräuend gegen den nächtlichen Himmel stiegen (...) Mit weißen Kronen kamen sie daher, heulend, als sei in ihnen der Schrei alles furchtbaren Raubgetiers der Wildnis. Der Schimmel schlug mit den Vorderhufen und schnob mit seinen Nüstern in den Lärm hinaus; den Reiter aber wollte es überfallen, als sei hier alle Menschenmacht zu Ende; als müsse jetzt die Nacht, der Tod, das Nichts hereinbrechen.“
Mit welcher Sprachmacht Storm hier zwischen Realismus und Fantastik manövriert, um die menschliche Hybris in der Nordsee zu versenken: unschlagbar, ein Klassiker des romantischen Schauergenres. MICHAEL QUASTHOFF
Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Taschenbuch, Reclam-Verlag, 160 S., 3,10 € Hörbuch, Universal Music, 4CDs gesprochen von Gerd Westphal,19,99 €